Anne Reverseau  Schreiben und die Kunst im Briefwechsel. Zu einigen literarischen Aspekten der Correspondance avec Stéphanie von Thilo Westermann (2022)

Beobachter und Spezialisten sind sich darin einig, dass sich die Beziehung zwischen Kunst und Literatur in den letzten Jahren deutlich verdichtet hat. Praktiken wie Werke, die in der sog. ultrazeitgenössischen Gegenwart (dem 21. Jahrhundert) entstehen, lassen sich manchmal schwer einordnen und entlehnen ihre Topoi, Gepflogenheiten und Zielsetzungen oftmals anderen Medien als dem eigenen. Diese mélange lässt sich mit der Vervielfältigung der Praktiken und Zunahme der Kollaborationen innerhalb der Künste erklären. Doch wie entstehen solche Verbindungen zwischen Kunst und Literatur, wenn man einmal von den Personen absieht? Viele zeitgenössische Schriftsteller verlagern die Handlung ihrer Werke ins Kunstmilieu und geben ihrer Erzählung somit einen Rahmen, in dem sich Charaktere wie Künstler, Galeristen und Sammler entwickeln lassen, oder sie nutzen diesen Rahmen für ästhetische Auseinandersetzungen. Andererseits ist auch die Literatur in der zeitgenössischen Kunst äußerst präsent, man denke nur an das Spiel mit Querverweisen in Titeln oder Bildunterschriften bildkünstlerischer Werke oder an manche für die zeitgenössischen Künstler unabdingbaren Großmeister der Literatur wie etwa W. G. Sebald oder Georges Perec. Auffallend ist auch der Stellenwert, den Künstler heute dem Buch und dem geschriebenen Wort beimessen. Die Hinwendung zur Materialität eines Schriftstückes kann sich bis zur Faszination steigern, die zumindest teilweise auf die zunehmende Digitalisierung sowie die Entmaterialisierung unseres Wissens und unserer sozialen Umgangsformen zurückzuführen ist.

Thilo Westermann ist einer jener Künstler, für die das geschriebene Wort eine zentrale Rolle spielt. Wie er sagt, ist er vor allem Maler, ein Künstler, der schreibt, ohne Schriftsteller zu sein, ein Schreibender vielmehr als ein Schriftsteller, um die berühmte Unterscheidung von Roland Barthes1 aufzugreifen. Dennoch hat sein Langzeitprojekt der Correspondance avec Stéphanie zweifelslos etwas zutiefst Literarisches.

„Ich bin Stéphanie begegnet.“ Eine romanhafte Liebe auf den ersten Blick

Die Art, wie Thilo Westermann die Anfänge seines Projekts „mit Stéphanie“ erzählt, erinnert an die „Szenen des ersten Blicks“, wie sie der Schweizer Literaturkritiker Jean Rousset in Leurs yeux se rencontrèrent untersucht hat.2 „Ich bin Stéphanie begegnet“, sagt der Künstler schlicht, bevor er näher auf die nächtlichen Umstände seiner Begegnung mit Aloys Keßlers Stich eingeht, der (nach einem Gemälde von Johann Heinrich Schröder) Stéphanie de Beauharnais, Großherzogin von Baden, im Profil zeigt [S. 187] und dem er in der Lounge eines Hotels in Baden-Baden begegnete, wo er 2017 eingeladen war. Westermann macht daraus ein einschlägiges Erlebnis, von dem er gerne berichtet – der Beginn eines Langzeitprojektes, in das er fast unfreiwillig hineingezogen wurde. Diese Verstrickung hat etwas von einer persönlichen Mythologie, die er sich wieder und wieder vergegenwärtigt, ganz ähnlich, wie er durch die stete Wiederholung des Punktesetzens seine Hinterglasmalereien entwickelt. „Hätte ich Dich bloß diesen einzigen Augenblick gesehen, so wäre bereits mein Schicksal entschieden, wäre es zu spät gewesen, Dich jemals vergessen zu können“, schreibt Saint-Preux an Julie im 13. Brief von Die neue Heloise.3 Dieser Roman von Jean-Jacques Rousseau erschien 1761, wurde viele Male neu aufgelegt und ist zentraler Betrachtungsgegenstand von Jean Roussets Buch über die literarische Liebesbegegnung. 28 Jahre nach Erscheinen dieses europäischen Bestsellers am Ende des 18. Jahrhunderts wird Thilo Westermanns Stéphanie im Jahr 1789 geboren. Auch liegt Baden-Baden gar nicht weit von Genf entfernt, dem Handlungsort von Die neue Heloise. Dass Jean-Jacques Rousseaus Leserschaft den Hauptfiguren des Romans, Saint-Preux und Julie, so sehr zugetan war, dass sie sich nach Neuigkeiten über sie erkundigte, wie man sie von lebenden Personen erfragen würde, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Briefform einen starken Realitätscharakter vermittelt. Der Briefroman ist im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert ein bedeutsames Genre, man denke nur an Goethe oder Rousseau, aber auch an Richardsons Pamela (1761) oder an die Gefährlichen Liebschaften (Liaisons dangereuses, 1782) von Laclos. Eben genau am Ende dieses goldenen Zeitalters betritt Stéphanie die Bühne, der der deutsche Künstler seit 2018 ein wenn auch nicht wirklich romanhaftes, so doch literarisches Briefprojekt widmet.

Stéphanie antwortet Thilo Westermann nicht wie Julie Saint-Preux, Pamela ihrer Mutter oder Madame de Merteuil Valmont geantwortet haben. Nein, seine Briefe sind immer Briefe von Thilo Westermann … Die Briefbeziehung ist einseitig, was in der Geschichte der Briefliteratur keineswegs eine Ausnahme darstellt. Die Portugiesischen Briefe (Lettres portugaises) [von Guilleragues]4, Das Leben der Marianne (La vie de Marianne) von Marivaux oder Die Leiden des jungen Werther von Goethe sind Romane mit einem einzigen Briefschreiber, wie der Literaturhistoriker François Jost bestätigt, der in Le Roman épistolaire et la technique narrative au XVIIe siècle eine Typologie der verschiedenen Formen dieses Genres erstellt hat.5

Auf den Bildauslöser drücken, das auslösende Porträt

Bei Thilo Westermann werden der Künstler und die historische Person Stéphanies zu Figuren wie in den von Jean Rousset untersuchten Romanen, aber es handelt sich nicht um eine wahre Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Ein Kunstwerk wird hier zur Matrix, wie in André Gides Roman Isabelle (1911), in dem von einem jungen Mann die Rede ist, der sich zur villeggiatura in einem Schloss aufhält und sich über „eine gerahmte, zerbrechliche Miniatur“6 in die Tochter des Hauses verliebt, die auf der Flucht ist. Dies ist eine bewährte Technik im Roman, die auf eine alte Literatur- und Volkstradition zurückgeht und worauf auch der Erzähler selbst durch seine Frage anspielt: „Wie heißt das Märchen, in dem der Held sich allein schon in das Bild der Prinzessin verliebt?“ Anschließend beschreibt er das Bild selbst: „Die Qualitäten oder die Mängel des Gemäldes, sagte ich, bedeuteten mir wenig: die junge Frau, die ich vor mir hatte und die ich nur im Profil sah, eine Schläfe halb verdeckt von einer schweren, schwarzen Locke, ein sehnsüchtiges und traurig träumerisches Auge, der Mund leicht geöffnet und seufzend, der Hals zerbrechlich wie ein Blütenstengel, diese Frau war von verwirrendster und engelhafter Schönheit.“7

Diese Verwirrung, die der Anblick einer perfekten, idealisierten Schönheit hervorruft, ist auch die Matrix des 1953 erschienenen Romans Jules et Jim von Henri-Pierre Roché, der dem berühmten Film (1962) von François Truffaut als Vorlage diente. Diesmal verlieben sich die jungen Künstler Jules und Jim während einer Griechenlandreise in eine Statue, ein vollkommenes, in Marmor gemeißeltes Gesicht einer erstarrten, ewigen Schönheit, die sie in den Zügen und vor allem im Lächeln Catherines (Kathe im Roman), die im Film von Jeanne Moreau gespielt wird, wiedererkennen. Die Liebe auf den ersten Blick wird auch hier über ein Bild herbeigeführt, das zugleich eine Imago ist, d. h. ein symbolisches Konstrukt, das dazu dient, die Vorstellungskraft anzuregen.

Darüber hinaus erinnert die Statue in Jules et Jim an den Tod: Als erstarrtes Bild der Verstorbenen, als Gedenken an die Großen der Vergangenheit lässt das Statuarische schon bereits im Moment des Sich-Verliebens den tödlichen Ausgang der Liebesgeschichte à troiserahnen. Auch das Porträt Isabelles, in das sich Gides Held verliebt, ebenso wie das Porträt von Stéphanie, das bei Thilo Westermann einen so prägenden Eindruck hinterlassen hat, tragen Züge eines Grabmals: Dem Porträt einer Abwesenden, das zu Recht Stoff für etliche Szenarien gibt, steht das Porträt einer historischen Person gegenüber, die schon lange tot ist. Die Kunst Thilo Westermanns, vor allem seine pointillistische Hinterglasmalerei, erinnert an die Grabmalskünste und Marmorbildhauerei, aber ebenso an den Kupferstich. Die beiden Frauen, Isabelle wie Stéphanie, sind im Profil dargestellt und darüber hinaus, symbolisch gesprochen, eingesperrt. Sie sind Gefangene ihrer Familien, ihres Schicksals, ihrer wirklichen oder geplanten Heiraten. Sie sind Erwartungen ausgesetzt, deren lastende Verantwortung sie tragen.

Um seine Beziehung zu Stéphanie zu erklären, spricht Thilo Westermann von einer „Projektionsfigur“ und beruft sich damit im weitesten Sinne auf jenes psychologische Konzept, das auf eine Schutzmaßnahme der Psyche abzielt. Aus seinen Worten geht hervor, dass die „Projektion“ hier eine Bewegung aus der Vergangenheit in die Gegenwart ist. Stéphanie ist für den Künstler eine lebende Persönlichkeit, die er sich bereitwillig als Kunstsammlerin im 21. Jahrhundert vorstellt. „Stéphanie lebt“, erklärt er ganz einfach, wenn man sich über die unterschiedlichen Zeiten und das Spiel mit Anachronismen in der Correspondance avec Stéphanie wundert; zum Beispiel dort, wo er der Großherzogin in seinem Brief am 17. März 2018 „ein hoteltypisches Telefon“ beschreibt oder wenn er ihr erklärt, was ein Diasec ist (ein „Verfahren [...], wonach die Motive auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und anschließend hinter eine Acrylglasscheibe kaschiert werden, die den Bildern jene Brillanz und Tiefe verleiht, die man von Hinterglasbildern her kennt“). Wie in seinen Fotomontagen, die ihren Realitätscharakter aus ihrer Einfachheit und den Aufnahmebedingungen des Ausgangsmaterials beziehen, gehört auch Stéphanie zugleich der Realität als auch der Kunst an: Sie ist immer schon da und gleichzeitig erfunden.

Wer ist Stéphanie? Thilo Westermann forscht nach

Stéphanie hat zweifelsfrei etwas von einer Muse, einer traditionellen Inspirationsgeberin, doch das Verhältnis von Thilo Westermann zu dieser Frau hat auch viel aktuellere Züge. Im gesamten Projekt der Correspondance avec Stéphanie erkennt man einen starken zeitgenössischen Tropismus, eine Vorliebe zur Recherche, die sich oftmals am Vorbild der Sozialwissenschaften orientiert und, wie Marie-Jeanne Zenetti gezeigt hat,8 die Literatur seit rund zwanzig Jahren stark dominiert. Diese Tendenz hat auch die Gegenwartskunst erfasst, die ebenfalls seit der Jahrtausendwende einen regelrechten archival turn zu verzeichnen hat, einen starken Anstieg des Interesses an Archiven, Handschriften, Fotografischem, Filmischem usw.

In der Correspondance avec Stéphanie geht es oft um die Spuren dieser Frau. So werden zum Beispiel im Brief vom 29. August 2019 die Orte, die Stéphanies Namen tragen (das Stephanienufer, die Villa Stéphanie usw.), aufgezählt und Gedenktafeln in Mannheim sowie jene Fußabdrücke ihres „Wirkens“ angesprochen, die Stéphanie dort in Form von künstlerischen Salons, der Organisation eines Frauenvereins, der Gründung des Luisenhauses für Waisen oder der Verlegung des zum Großherzoglichen Instituts umbenannten Pensionats der Amalie von Graimberg hinterlassen hat.

Spuren eines Lebens – das ist eine höchst literarische Angelegenheit. Thilo Westermann erwähnt wie nebenbei in einem Satz an seine Briefpartnerin, dass er sich nun „wieder intensiver mit Ihrer [Stéphanies] Biografie beschäftigen“ kann.9 Das ist ein literarischer Topos, der an die Karteikarten zu Figuren erinnert, die Romanciers wie Zola angelegt haben, oder an die Stammbäume der Menschlichen Komödie (Comédie humaine) von Balzac, aber auch an zeitgenössischere Projekte, wie Marc L***, dem Text von Raphaël Meltz, der 2008 großes Aufsehen erregte und das genauest mögliche Porträt eines Durchschnittsmenschen zeichnet, das aus dessen digitalen Spuren ablesbar war.10 In all diesen Fällen geht es darum, jemanden, ausgehend von kleinen Details, zu erfassen, ein möglichst vollständiges Porträt aus winzigen, banalen Dingen zu erstellen und zu verstehen, was einen von seinen Mitmenschen unterscheidet.

Bei Thilo Westermann nimmt der Topos die Form einer richtiggehenden Forschungsarbeit an, denn der Künstler ist auch Wissenschaftler und Kunsthistoriker. Als Wissenschaftler wie als Künstler geht er akribisch vor. Dies lässt sich gut an der Art und Weise beobachten, wie er etwa über die drei im Baden- Badener Stadtarchiv gefundenen Briefe schreibt.11 Er räumt diesen Briefschaften darüber hinaus auch einen gewichtigen Platz in der Dramaturgie seines Projektes ein, denn so kann er Stéphanie ihre Briefe gewissermaßen zurückgeben, sie ihr über die Zeit hinaus zurücksenden. Die Correspondance avec Stéphanie ist dennoch ein literarisches Projekt, das aber zeitgenössischen Arten des Schreibens verwandt ist, die sich darum bemühen, Untersuchungen in angemessener Form wiederzugeben: Das Medium des Briefes erlaubt Westermann, seine Forschungen auf einem anderen Weg zu verbreiten als auf dem akademisch-wissenschaftlichen.

Die Form des Briefes als Rückgrat des Projekts

Thilo Westermann wählte die Briefform, weil sie ihm ermöglicht, verschiedene Facetten seiner Arbeit miteinander zu verbinden, zu strukturieren und Narrativität in sein Werk einzuführen. Vor allem aber lässt sich mit ihr das gesamte Projekt als fortlaufende Geschichte charakterisieren. So äußert Westermann bereits am Ende des ersten Briefes folgenden Wunsch: „Ich [...] würde mich freuen, wenn ich Sie auch in Zukunft über meine Arbeit auf dem Laufenden halten dürfte.“

Der Brief nutzt die Technik der Doppeladressierung, einer im Theater wohl bekannten Praxis, bei der zwei Empfänger gleichzeitig angesprochen werden. Der Schauspieler wendet sich dabei sowohl an die anderen Schauspieler auf der Bühne als auch zugleich an das Publikum im Zuschauerraum. In Thilo Westermanns Briefen besteht die Doppeladressierung darin, dass er sich gleichzeitig an Stéphanie und an den zeitgenössischen Leser wendet. Das macht sich besonders dort bemerkbar, wo der Künstler der Großherzogin eine Frage stellt: Er zielt dabei nämlich darauf ab, dass sich der Leser diese Frage stellt. Manchmal scheint sich der Künstler selbst dem Spiel der Fantasie zu verweigern. Sobald man den Eindruck hat, dass die Brieffiktion ins Laufen kommt, scheint er einen Gang zurückzuschalten und zu einer rationalen und beherrschten Haltung zurückzukehren. Jedenfalls verfällt er nie ins Lyrische. So deutet er zum Beispiel den Gedanken nur an, auf eine Antwort von Stéphanie zu warten (in seinem Brief vom 21. März 2019 bittet er sie, ihm zu helfen, indem sie ihm weiterhin erlaubt, sie auf dem Laufenden zu halten). Kaum hat er ein imaginäres „wir“ benutzt (er spricht im gleichen Brief von „unser[em] Projekt“), tritt er einen Schritt zurück und fährt in einem rationalen Ton fort.

Thilo Westermanns Briefe richten sich über Stéphanie hinaus an alle, die sich für seine Arbeit interessieren. Die Korrespondenz erlaubt ihm, über Kunst, aber auch über persönliche Angelegenheiten wie Aufträge, Finanzierung, Residency-Aufenthalte und andere Windungen eines heutigen Künstlerlebens zu sprechen. So kündigt er Stéphanie voller Freude in seinem zweiten Brief den Aufenthalt in der Pariser Cité Internationale des Arts an und geht sogar so weit, die Beschreibung seines künstlerischen Projektvorhabens im Brief zu integrieren.

Die Öffnung der Briefe an Stéphanie hin zur Welt der zeitgenössischen Kunst hängt mit der Sprache zusammen, die der Künstler gewählt hat, um ihr zu schreiben: Französisch. Dies erinnert daran, dass Westermann die Sprache Molières erlernte, indem er ein Tagebuch führte, um durch das regelmäßige Schreiben seine persönliche Sprache zu entwickeln. Dieser Bezug zur französischen Sprache erklärt zweifellos, warum die Briefe an Stéphanie oftmals die Form entsprechender Einträge annehmen, nicht zwangsläufig eines intimen Tagebuches, sondern vielmehr eines Logbuches über den Alltag eines heutigen Künstlers.

Ein weiteres auffälliges Merkmal seiner Briefe ist, dass sie von Hand auf Papier geschrieben sind. Thilo Westermann ist ein großer Liebhaber der Handschrift und nutzt sie gern im täglichen Leben. Der handgeschriebene Brief gilt ihm als Inbegriff der französischen Kultur und ist im vorliegenden Fall inspiriert von der Bildunterschrift des Stiches, die den Namen Stéphanies in schönen Schreibschriftlettern wiedergibt [S. 187]. Abgesehen von der Aura des Handschriftlichen, haben seine Briefe den Vorteil, tatsächliche Gegenstände zu sein, die im Rahmen einer Ausstellung gezeigt werden können.

Hinzuzufügen wäre, dass die Spuren Verstorbener oft schriftlich sind, was erklären könnte, warum das Schriftliche heute bei vielen Künstlern eine so große Bedeutung hat. Das Schreiben ist eng mit dem Erfahren von Zeit verbunden: Es ermöglicht uns, Vergangenes nachzuverfolgen und die Gegenwart für die Zukunft aufzuzeichnen. Sofiane Laghouati, Kurator der Ausstellung Bye Bye Future über die Kunst der Zeitreise, beruft sich auf Jungs Idee, der zufolge mit dem Schreiben das reflexive Denken beginnt, und hat u. a. die Bedeutung der Vorstellungswelt des Buches und des Schreibens für Zeitreisen dargelegt.12

Eine zeitgenössische Kunst des Briefschreibens?

Mit anderen Kunstprojekten, die sich der Briefform bedienen, weist die Correspondance avec Stéphanie weitere Gemeinsamkeiten auf, zum Beispiel das Interesse an botanischen Künsten und deren politischen Verstrickungen im 18. und 19. Jahrhundert, das sich auch in der Arbeit This, of course, is a work of imagination (Mu.ZEE Ostende, 2017) der südafrikanischen-belgischen Künstlerin Wendy Morris ablesen lässt. Die langen Ausführungen im Brief vom 19. März 2020, die sich an den Besuch von Joséphines Haus in Malmaison anschließen, zeugen von einem Interesse an den Verbindungen zwischen Gärten und Kolonialherrschaft, einem Thema, das viele bildende Künstler, etwa auch die Franzosen Florentine und Alexandre Lamarche-Ovize, beschäftigt.

Viele Künstler sind vom Untersuchen, von Spuren und der Geschichte fasziniert, was dazu führt, dass Schriftliches zu Material und Werk wird, aber auch zum Mittel des Austausches. Das Schreiben wird somit zur künstlerischen Praxis und die Briefform zu einem echten künstlerischen Mittel, jenen Dialog nachzuahmen, der bei der Archivarbeit selbst entsteht. In Thilo Westermanns Briefen wird die Archivarbeit ausdrücklich als eine Möglichkeit präsentiert, den Dialog mit Stéphanie voranzutreiben oder gar zu ersetzen. So schreibt er am 29. August 2019: „Leider ist von Ihrem Garten nichts mehr übrig. Wie ich gelesen habe, haben Sie sich bei seiner Gestaltung vom Englischen Stil inspirieren lassen. Es würde mich sehr interessieren, inwieweit Sie sich hierbei mit Ihrer Tante über Landschaftskonzepte und gartenbauliche Praktiken ausgetauscht haben, und ich hoffe, in entsprechenden Archiven hierzu noch mehr herausfinden zu können.“

Der Brief ist bei Thilo Westermann also in seiner kostbaren, handgeschriebenen Form der fast schon stereotype Rahmen für eine radikal zeitgenössische Praxis, nämlich diejenige der Recherche und Dokumentation. Von einem wirkungsvollen storytelling in Form einer persönlichen Mythologie in Wort und Bild durchsetzt, ist die Correspondance avec Stéphanie dafür zugleich Begegnungsort und Kristallisationspunkt.


1 Vgl. Roland Barthes, „Ecrivains-écrivants“, in Essais critiques, Paris, Seuil, 1964; ders., in Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, „Schriftsteller und Schreiber“, Übersetzung Helmut Scheffel, Suhrkamp, Frankfurt / Main 2006.

2 Vgl. Jean Rousset, Leurs yeux se rencontrèrent. La scène de première vue dans le roman, Paris, José Corti, 1981.

3 Julie oder Die neue Heloise, Jean-Jacques Rousseau, in der ersten Übertragung von Johann Gottfried Gellius, überarbeitet und ergänzt von Dietrich Leube, Winkler, München 1978, S. 236.

4 Anmerkung der Übersetzer.

5 Vgl. François Jost, « Le Roman épistolaire et la technique narrative au XVIIIe siècle », in Comparative Literature Studies, III, 4 (1966), S. 397-427.

6 André Gide, Isabelle, Paris, Hachette, Le Livre de Poche, 1972, S. 88; ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1992, Band VIII, Isabelle, übersetzt von Andrea Spingler, S. 179.

7 Ebd.

8 Vgl. Marie-Jeanne Zenetti, Factographies. L’enregistrement littéraire à l’époque contemporaine, Paris, Classiques Garnier, 2014.

9 Correspondance avec Stéphanie, Brief „Berlin, le 17 mars 2018“, S. 4; vgl. S. 271.

10 Vgl. Raphaël Meltz, „Marc L***“, in Le Tigre, 28 (nov.-déc. 2008), S. 36-37. Online: http://ww2.ac-poitiers.fr/doc/sites/doc/IMG/pdf/marc-l.pdf.

11 Vgl. Correspondance avec Stéphanie, Brief „Berlin, le 22 juin 2021“; vgl. S. 316-319.

12 Vgl. Sofiane Laghouati (Hg.), Bye Bye Future, l’art de voyager dans le temps, Bruxelles, La Lettre volée, 2020.

Übersetzung: Heinke Wagner

Publiziert in Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hg.): Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 251–261.