Das thematisch weit verzweigte Œuvre des Künstlers und Kunsthistorikers Thilo Westermann ist in seinem Kern an das Medium des Hinterglasbildes gebunden. In ihm finden diverse Aspekte zusammen, von ihm gehen sie aus. In der Geschichte der Kunst ist die Technik der Glasmalerei bevorzugt für Bildthemen verwendet worden, die im durchscheinenden Licht eine sakrale Aura erfahren sollten. Im gotischen Kirchenraum sollte sie die religiösen Inhalte des als göttlich gedachten Lichts veranschaulichen, die sich für die Gläubigen in den Farben sichtbar entfalten. In Marcel Duchamps Werk Großes Glas (1915/1923) nahezu farblos und nur noch grafisch gestaltet durch verlötete Bleibahnen, tritt das Glas selbst in seiner Materialeigenschaft als transparente Folie in Erscheinung. Im Sinne einer Lupe sollte es mitsamt der in Blei fixierten Zeichnung die unsichtbaren Kräfte der Erotik erkennbar machen, die das Leben der Betrachter:innen durchwirken. Pablo Picasso und Jackson Pollock haben hingegen auf Glas gemalt. Inmitten der Pinselspuren ihrer gestischen Malerei werden die Betrachter:innen im Raum sichtbar und einbezogen in die stets neu entstehenden, gleichsam dynamisierten Bilder. Gerhard Richter wiederum ließ seine grau oder rot eingefärbten Glasscheiben durch Spiegeleffekte zu einer irritierenden Bilderfahrung für das Publikum werden. An religiöse Traditionen knüpfte Henri Matisse an mit seinem Glasmalerei-Ensemble für die Chapelle du Rosaire in Vence. Aber sein dortiger Lebensbaum (1951) in den Chorfenstern bleibt dem unmittelbar liturgischen Zusammenhang entrückt; es handelt sich um ein Bild im Bild, das, als Vorhang gestaltet, die Schönheit seiner Farbgebung gegen den kirchlichen Kontext behauptet:
„Ich möchte, dass die Besucher der Kapelle eine spirituelle Bereicherung erfahren. Dass sie, wenn sie nicht gläubig sind, in diesem Ambiente erleben, wie sich ihr Geist lichtet, die Gedanken sich klären und ihre Stimmung sich hebt.“1
Das dergestalt luzide künstlerische Medium des Bildträgers Glas verwendet Thilo Westermann insofern grundlegend anders, als er die Rückseite des am Ende sichtbaren Bildes zunächst mit schwarzer Farbe beschichtet und dem Glas somit seine Transparenz nimmt. Aus der dort aufgetragenen Schicht arbeitet er die Punktstruktur der Bildmotive heraus, die später durch eine nachträglich aufgelegte Schicht weißer Farbe an der Vorderseite strahlend hell in Erscheinung treten. Was zunächst aussieht wie die Rasterung einer reprografischen Abbildung, ist tatsächlich Ergebnis mühevoller Handarbeit. Mit ihr greift der Künstler ein Verfahren auf, das Cennino Cennini um 1400 in seinem Libro dell’Arte beschrieben hat, um aufzuzeigen, wie ein gläserner Reliquienschrein durch Eingravieren einer Zeichnung in eine hinter dem Glas fixierte Schicht Blattgold aufgewertet werden kann.2 Westermann ersetzt jedoch das schimmernde Blattgold durch ein tiefes Schwarz. Das auf diese Weise indirekt hervorgebrachte Bildmotiv bekommt durch die Ausblendung von Licht und Schatten eine irreale Qualität, ihm wird mit der Materialität des Bildträgers und der Farbe jede Verankerung in Raum und Zeit entzogen. Das Auge stößt vor dem homogenen Schwarz auf spiegelglattes, kantiges Glas. Insofern dieses Schwarz der rückwärtigen Grundierung des Glases und die weiße Versiegelung der transparenten Punktstruktur des Bildmotivs nur „hinter Glas“ zu sehen sind, bleiben sie jeder visuellen Erfahrung ihrer haptischen Qualitäten entzogen, materielos und „faktur“-los, um einen Begriff zu zitieren, mit dem der ungarische Kunstkritiker Ernst Kállai 1927 die Fotografie von der Malerei unterschieden und die „stoffentrückte, geheimnisvolle Schönheit [des Fotogramms]“ beschrieben hatte.3 So kann man zunächst festhalten, dass Thilo Westermann die handwerklich altertümliche Technik der Hinterglasmalerei, die in seinem Fall eigentlich als Hinterglasradierung bezeichnet werden müsste,4 durch seine Arbeitsweise den Modalitäten der visuellen Wahrnehmung im Zeitalter jener leuchtenden Punkte angepasst hat, die allenthalben auf TV-Bildschirmen oder Screens digitaler Medien flimmern. Er nutzt dabei die Möglichkeiten der Kombination von Motiven und Bildräumen, die verschiedenen Realitätsebenen angehören, etwa im Zusammenspiel der Oberflächenstruktur einer Wandbespannung mit der Themenvielfalt eines davor aufgestapelten Bücherberges, oder in jenem des höfischen Porträts von Stéphanie de Beauharnais, Großherzogin von Baden, mit dem botanischen Porträt einer Bougainvillea oder in der Montage seiner Bilder in Bilder potenzieller Sammlungskontexte, die ihrerseits als Bilder seine Narrative weiterspinnen.
Allerdings sind Westermanns Hinterglasmalereien und sechsfach vergrößerte Unikatdrucke nicht nur technisch, sondern vor allem in bildlicher Hinsicht von den digitalen Bildern der Massenmedien zu unterscheiden: Sie bewahren eine Spannung des Motivs zum Bildgrund, was sie von ihnen grundlegend abgrenzt und stattdessen mit der Geschichte der grafischen Künste verbindet. Eines der spezifischen Merkmale, das Zeichnung und Druckgrafik wiederum prinzipiell von der Malerei unterscheidet, hatte Walter Benjamin definiert:
„Die graphische Linie ist durch den Gegensatz zur Fläche bestimmt; dieser Gegensatz hat bei ihr nicht etwa nur visuelle sondern metaphysische Bedeutung. Es ist nämlich der graphischen Linie ihr Untergrund zugeordnet. Die graphische Linie bezeichnet die Fläche und bestimmt damit diese, indem sie sie sich selbst als ihren Untergrund zuordnet. Umgekehrt gibt es auch eine graphische Linie nur auf diesem Untergrunde, sodass beispielsweise eine Zeichnung, die ihren Untergrund restlos bedecken würde, aufhören würde, eine solche zu sein. Damit ist dem Untergrund eine bestimmte, für den Sinn der Zeichnung unerlässliche Stelle angewiesen, so dass innerhalb der Graphik zwei Linien nur relativ zu ihrem Untergrund auch ihre Beziehung zueinander bestimmen können, übrigens eine Erscheinung, bei der die Verschiedenheit zwischen graphischer und geometrischer Linie besonders klar hervortritt. – Die graphische Linie verleiht ihrem Untergrunde Identität.“5
Betrachtet man Thilo Westermanns Arbeiten im Horizont dieser Phänomenologie der grafischen Künste, so besteht eine Verbindung sowohl zur Zeichnung, die ihren Bildträger als Negativfläche zum imaginären Raum aktiviert, als auch – über die Verwendung der Nadel – zum Kupferstich und zur Radierung. Den spezifischen Gegensatz zwischen dem Bildträger und der grafischen Markierung erzeugen diese beiden Techniken jedoch nur indirekt, durch die Umkehrung des eingeritzten Negativs ins Positiv der Abzüge von der jeweiligen Druckplatte. Wie in der Zeichnung kommt dabei die materiale Präsenz der Druckfarbe zur Geltung. Für Thilo Westermanns Hinterglasbilder dagegen ist das Schwarz des ungreifbaren Bildgrunds bestimmend, aus ihm taucht ein Motiv in weißer Punktstruktur auf. Hierin liegt die spezifische Besonderheit seiner Abweichung von der Tradition der beiden Techniken grafischer Kunst, denn seine „Zeichnung“ wird nur als negative Darstellung im schwarz beschichteten Glas sichtbar, was eine metaphorische Bedeutung mit sich bringt: Das Motiv kommt in einer Negation der Negation zum Vorschein, wird aus dem schwarzen Nichts des Bildgrunds herausgearbeitet, bleibt eine Leerstelle, ohne materiale Präsenz, hinter Glas. Anders als Zeichnung und Druckgrafik, die auf weißem Papier eine positive Annäherung an das Bildmotiv vollziehen, indem sie es zur Sichtbarkeit bringen, erscheinen Thilo Westermanns Motive hinter Glas im Modus ihrer Abwesenheit, in doppelt negativer Darstellung, aus dem Schwarz hinter Glas aufscheinend, wesenlos schwebend im Nichts dieses Hintergrunds, wie ein Astralleib, und im Unikatdruck zudem irreal vergrößert. In dieser Qualität negativer Bilder, im Modus der Abwesenheit, bekommt man etwa gekappte Schnittblumen in eisigen Kristallvasen zu sehen: die vegetabilische Blütenpracht hochgezüchteter Pflanzen, deren dem Tod geweihte Schönheit im leblosen Schwarz-Weiß der Bilder zur Schönheit der Kunst transzendiert wird. Die geschliffenen Kristallvasen, die Thilo Westermann den Schnittblumen in seinen Hinterglasbildern wie einen Thron zu Füßen stellt, sind zugleich die Särge, in die sie einbrechen werden, wie es Georges Bataille schon 1929 untrüglich klar formuliert hat:
„Da die Blumen nicht ehrwürdig altern wie die Blätter, die nichts von ihrer Schönheit verlieren, selbst nach ihrem Tode nicht, verwelken sie wie gealterte, zugeschminkte Modepüppchen und krepieren lächerlicherweise auf eben den Stielen, die sie in die Wolken zu heben schienen. […] Nach einer sehr kurzen Blütezeit verdörrt die herrliche Blütenkrone unzüchtig in der Sonne und wird so für die Pflanze zu einer grellen Schmach. Dem Gestank des Misthaufens entstiegen, scheint die Blume auf brüske Weise zu dem ihr ursprünglichen Dreck zurückzukehren, obwohl man hätte meinen können, dass sie diesem mit einem Elan von engelhafter und lyrischer Reinheit entkommen würde; das größte Ideal wird sehr schnell zu einem Stück Scheiße auf einem offenen Misthaufen reduziert.“6
Aber den Hinterglasbildern Thilo Westermanns ist eben nicht nur die Vergänglichkeit eingeschrieben, sondern auch das jenseitige Versprechen einer Schönheit, die Bild und Maßstab eines guten Lebens sein kann, wie es seinerseits unübertroffen François Cheng in seinen Cinq méditations sur la beauté (2006) geschrieben und in seinem Vortrag Qu’est-ce que la beauté (2020) in der Fernsehliteratursendung La Grande Librairie formuliert hat:
„Die Schönheit ist nicht einfach nur Schmuck, die Schönheit ist ein Zeichen, durch das uns die Schöpfung zeigt, dass das Leben einen Sinn hat. In ihrer Gegenwart versteht man sofort, dass das lebende Universum nicht eine neutrale, indifferente Gesamtheit ist, sondern dass es eine Absicht besitzt. Sie sagen, es sei schwer die Schönheit zu finden, doch die Schönheit ist allgegenwärtig: eine einfache Blume ist ein Wunder. Warum erreicht eine Blume, die sich mit Blütenblättern ausstattet, ein solches Maß an Perfektion, Form, Farbe und Duft? Man kann sich nicht genug darüber wundern.“7
1 Henri Matisse. Le Chemin de croix. Chapelle du Rosaire des dominicaines de Vence, hrsg. von Gilles Fage, Ausst.-Kat. Musée Matisse, Nizza, Paris 2001, S. 52 (Übers. d. Autors).
2 Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Traktat der Malerei (um 1400), übersetzt von Albert Ilg (1871), Neudruck: Osnabrück 1970, Kap. 172, S. 118–120.
3 Ernst Kállai, „Malerei und Fotografie“, in: i 10, 1, 1927, S. 148–157, zit. nach Wolfgang Kemp (Hrsg.), Theorie der Fotografie. Eine Anthologie, Bd. II (1912–1945), München 1979, S. 113–120.
4 Zum Verfahren der Hinterglasradierung: Wolfgang Brückner, Hinterglasmalerei, München 1976, S. 78f. (= Ethnologica bavarica, Heft 3, Bayerische Blätter für Volkskunde, Sonderdruck); Frieder Ryser, Verzauberte Bilder. Die Kunst der Malerei hinter Glas von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, München 1991, S. 25–27; Glanzlichter. Die Kunst der Malerei, hrsg. von Stefan Trümpler und Yves Jolidon, Ausst.-Kat. Musée Suisse du Vitrail Romont, Bern 2000, S. 226–231.
5 Walter Benjamin, „Über die Malerei oder Zeichen und Mal“ (1917), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2, Frankfurt am Main 1977, S. 603f.
6 Georges Bataille, „Le langage des fleurs“ (1929), in: ders., Documents, hrsg. von Bernard Noel, Paris 1968, S. 44–53, hier S. 48–50; dt. Übers. zit. nach Elan vital oder das Auge des Eros, hrsg. von Hubertus Gaßner, Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München, Hannover 1994, S. 497.
7 François Cheng: „Qu’est-ce que la beauté“ („Was ist Schönheit?“), in: La Grande Librairie, 29.1.2020 (Übers. d. Autors). In der dritten und vierten seiner Cinq méditations sur la beauté (Fünf Meditationen über die Schönheit) erläuterte Cheng bereits das Verhältnis des Schönen („beauté“) zum Guten („bonté“): „Die Schönheit, um die es uns geht, hat mit dem Sein zu tun, sie entspringt dem Inneren des Seins als Elan hin zur Schönheit, zur Fülle des Seins als Anwesenheit im Sinn des offenen Lebens. […] Den Begriff ‚Liebe‘ benutze ich kaum, weil das Prinzip der Liebe im Prinzip der Schönheit enthalten ist und die Liebe naturgemäß der Schönheit entspringt; diese bringt außerdem zum Ausdruck, was sich durch die Liebe ereignet: Einklang, Feier, Erklärung.“ François Cheng, Fünf Meditationen über die Schönheit, München 2008, S. 50 und 83.
Publiziert in Vitromusée Romont (Hg.), Thilo Westermann et l'art de dessiner sous verre, Berlin/Boston 2022, S. 133–137.