Magali Nachtergael  Migrationen hinter Glas (2022)

Der in der Kunstgeschichte geläufige Begriff von „Albertis Fenster“ gefällt mir sehr. Damit sind nicht nur eine bestimmte Weltanschauung, die Vorherrschaft eines Autors und das männliche Genie der Renaissance gemeint, sondern auch die Funktion des Gemäldes als Schnittstelle zu einer Welt, die natürlich eine künstliche, aber doch eine ganze Welt für sich ist. Die Idee des Fensters impliziert den Blick durch einen Rahmen – ein Gerüst, das nicht nur seit Jahrhunderten die künstlerische Praxis bestimmt, sondern auch die Vorstellung von Transparenz beinhaltet. Als ob zwischen dem Fenster und uns ein dünner unsichtbarer Film läge, der uns von der Außenwelt – oder dem Anderswo – trennt, ohne dass wir es überhaupt merken. Die zeitgenössischen Medientheoretiker Jay D. Bolter und Richard Grusin bezeichnen diese Illusion von direktem Kontakt, die uns das Medium vergessen lässt, als „Unmittelbarkeit“ („immediacy“).1

Dieser kleine Umweg über Albertis transparentes Fenster erlaubt uns einen anderen Blick auf Thilo Westermanns Hinterglasbilder. In unserer von digitalen Bildschirmen bevölkerten Welt entfaltet sich durch die akribische Herstellung seiner Werke eine zwei-, ja sogar dreifache Sicht des Bildes. Im Unterschied zu Albertis Fenster sind Westermanns „Fenster-Screens“ allerdings schwarz. Sie zeichnen sich durch ein tiefes und zugleich glänzendes Schwarz aus, das an kostbare chinesische Lackarbeiten erinnert und aus dem Blumen- und Pflanzenbilder wie virtuelle Geister aufsteigen.

Verwandlungen eines Blumenmotivs

Die Art und Weise, wie Thilo Westermann seine Bilder herstellt, mag zunächst zwar rätselhaft erscheinen, doch erhellt sie die vielschichte Anlage seiner Werke aus unterschiedlichen Ebenen und Schichten, die diesen ihre Tiefe verleihen. Der Künstler hat eine Vorliebe für Blumenmotive. Als würde er sich ein Herbarium anlegen wollen, sammelt er Ansichten exotischer Blumen und Pflanzen, die er in Botanikbüchern sowie auf Gemälden, Porzellangeschirr und Wandschirmen findet. Die Blumen und Pflanzen sind dabei meist nur ein unauffälliges Dekorelement. Sie wurden ursprünglich aufgrund ihres ästhetischen Wertes ausgewählt, um Innenräume zu schmücken oder als elegante Naturdetails Gemälde aufzuwerten. Ihre Identifizierung erfordert jedoch intensive Forschungsarbeit auf der Grundlage präziser Recherchen. Jede Blume, jede Pflanze trägt die Geschichte ihrer verschiedenen Erscheinungsformen während der Zeit des intensiven Kolonial- und Handelsaustauschs in sich, der unsere Vorstellung vom Morgenland bestimmt und die wichtigsten Strömungen der modernen Malerei – insbesondere der Romantik – geprägt hat.

Westermann entnimmt die Pflanzen und Blumen aus ihrer ursprünglichen Umgebung, stellt sie frei und reproduziert sie bisweilen mit den Vasen, in denen sie zuvor dargestellt waren. Durch diesen Transferprozess und die anschließende Vergrößerung werden die Pflanzen zu individuellen Darstellungsobjekten, die in einem unendlichen Raum zu schweben scheinen. Die Art und Weise, wie der Künstler seine vitrifizierten Blumen und Pflanzen präsentiert, erinnert an die Inszenierung in Kunst- und Volkskundemuseen, wo in abgedunkelten Räumen durch entsprechende Lichtregie die Exponate in den Vitrinen auf theatralische Weise inszeniert werden.

Um solche Licht- und Schatteneffekte zu erzielen, benutzt Westermann eine Nadel, um das Blumenfragment aus einer geschwärzten Glasplatte zu radieren. Punkt für Punkt trägt er die dünne schwarze Farbschicht ab, um die Silhouette des Pflanzenmotifs in Schwarz-Weiß, jedoch mit allen Nuancen des Originals, wiederzugeben. Die winzigen Punkte, durch die das Bild der Pflanze nach und nach zusammengesetzt wird, erinnern zwar an das vor allem in der Pop Art beliebte Siebdruckverfahren, doch werden sie allesamt nicht maschinell, sondern manuell von Künstlerhand gesetzt. Inspiriert von der großen Tradition der Glasgravur steht Westermanns Werk der Fotografie viel näher als jenen 3D-Porträts, wie sie neuerdings in Acrylglasblöcke gelasert werden. In seinen Blumenserien zielt die durchscheinende Tiefe der Bilder nämlich nicht auf einen realistischen oder spektakulären Trompe-l’Œil-Effekt, wenngleich durchaus Volumen durch die subtile, äußerst präzise Abstufung und verschiedene Grau- und Schattierungsnuancen vorgetäuscht wird.

Das kleinformatige Hinterglasbild zeugt unmittelbar von Westermanns manueller Arbeit und der Präzision seiner Zeichnung. Es wird nach der Fertigstellung gescannt, vergrößert und als Unikatdruck reproduziert, der das Bild künstlich und in vergrößerter Form wiedergibt. Daneben fertigt Westermann Fotomontagen, die den Transfer von einem Medium auf ein anderes dokumentieren. Er fügt dabei digital seine eigenen Bilder in eine künstlich zusammengesetzte, jedoch realistisch erscheinende Umgebung ein, in der das schwarz-weiße Bild situationsabhängig auch durch Buntstiftzeichnungen ergänzt werden kann. Im Lauf ihrer Transformation nehmen Westermanns Fotomontagen verschiedene Motive auf und transportieren diese von einem Raum in einen anderen. Wir erkennen dieselben Blumen auf unterschiedlichen Gründen wieder, obwohl sie ihre ursprüngliche Einbettung und Größe verändert und sich verwandelt haben und in einem zunehmend unwirklichen Raum auftreten.

Ästhetische Migrationen

Die Dynamik, die aus dem wiederholten Auftauchen der Blumenmotive in Thilo Westermanns Hinterglasbildern, Unikatdrucken und Fotomontagen spricht, wird dabei selbst zum Bild, das sich in eine umfassendere Überlegung einschreibt, die eine Brücke zwischen der Geschichte der dargestellten Pflanze und der Technik der Hinterglasmalerei schlägt. Das Prinzip der Migration des Motivs ist weder Teil eines seriellen Denkens noch einer tatsächlichen Verpflanzung. Wäre dies der Fall, müsste der jeweilige Präsentationskontext aus den Raumansichten gelöscht werden, da dieser, wie wir aus der Konzeptkunst wissen, die serielle Wirkung stört. Westermann fordert hingegen dazu auf, den Blick umzukehren und sich auf die Bilddetails zu konzentrieren.

Roger M. Buergel, Leiter der documenta 12, hat den Begriff der „Migration der Formen“ geprägt, eine Idee, die auch aus Westermanns Vorgehen spricht und darüber hinaus titelgebend für sein Buch Migrations by Thilo Westermann (2023) geworden ist. Neben der Migration von Formen – eine reale Blume wird zum Motiv, dann zum Dekormuster und schließlich zum eigenständigen Kunstwerk – veranschaulichen die vom Künstler ausgewählten Blumen auch Migrationen auf globaler und historischer Ebene, das heißt jene Spuren des menschlichen und natürlichen Austauschs, die das Gesicht der Welt verändert haben. Das Pariser Muséum national d’Histoire naturelle stellt in einem kollektiven Manifest über Migrationen fest:

„Mobilität ist für die Aufrechterhaltung des Lebens auf der Erde unerlässlich. Tier- und Pflanzenpopulationen bewegen sich entlang von Migrationsrouten und Ausbreitungs- sowie biologischen Korridoren, die es ihnen erlauben, sich langfristig zu etablieren. […] Die Verbreitung von Samen bei Pflanzen und von Individuen bei Tieren ist somit ein dynamisches Phänomen, das für die Aufrechterhaltung der Populationen unerlässlich ist.“2

Können solche wissenschaftlichen Beobachtungen auch auf die Kunst übertragen werden? Man kann auf jeden Fall festhalten, dass die Verbreitungswege in Malerei, Fotografie und angewandter Kunst auch die Dynamik des kreativen Prozesses befördern, indem sie es ermöglichen, mit Formen zu experimentieren und diese wie lebende Organismen zu kreuzen, zu entwickeln und zu veredeln. Die Blumen, die Westermann hinter eine Glasscheibe beziehungsweise hinter ein Fenster oder in eine Vitrine setzt, ziehen in diesem Sinne in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum weiter, an die Grenze zu einer Art Science-Fiction-Vision.

Seine Hinterglasbilder und Unikatdrucke überwältigen uns zuerst mit ihrer Schönheit, die durch die floralen Motive in ihrer Anmut noch gesteigert wird. Dann jedoch werden wir des Spiels von Licht und Schatten dieser Negativbilder gewahr. Hinter dem spektakulären und barocken Effekt des Chiaroscuro hinter Glas schimmert die negative Geschichte der Pflanze wie eine devitalisierte Version ihrer selbst hervor. So schön die Pflanze auch sein mag, sie bleibt doch wie ein Röntgenbild durchleuchtet, entfärbt und in kleine Punkte zerlegt. Anders als in Westermanns autonomen Buntstiftzeichnungen ist die Farbe in den Hinterglasbildern und Unikatdrucken gänzlich verschwunden. Es bleibt nur noch eine spektrale Form übrig, wie eine vage Erinnerung an die ursprüngliche Blume oder Pflanze. Diese scheint wie in unvordenklicher Zeit versteinert oder eingefroren zu sein und oszilliert ständig zwischen einem vorrevolutionären floralen Manierismus und der Modernität des vom Künstler verwendeten Materials. Dabei war sie einst so „realistisch“ und diskret in den Bildkompositionen, denen sie als Ornament diente: hier auf einem Teller aus der Qing-Zeit, dort als Illustration von Vishnu Persaud in Nathaniel Wallichs Plantae Asiaticae Rariores(1830–1832). Solche Darstellungen von blühenden Bougainvilleen, der Amherstia nobilis und Papilionanthe Miss Joaquim (der Nationalblume von Singapur) sowie von üppigen chinesischen Pfingstrosen spiegeln den gerade zur Zeit der Aufklärung und während der kolonialen Expansion des 19. Jahrhunderts so intensiven Austausch. Diese Pflanzen wurden auf Reisen geschickt, um die botanischen Sammlungen von Liebhaber:innen wie kundigen Missionar:innen zu ergänzen oder schlicht als „Mirabilien aus den neuen Welten“ zu zirkulieren. Sie wurden nach Europa eingeführt, um die Wunderkammern zu bereichern und die im Dienst von Adeligen und wohlhabenden Bürger:innen tätigen Kreativen zu neuen Formen zu inspirieren.

Fenster-Screen: von der Transparenz zur Opazität

Thilo Westermanns Hinterglasbilder sind also sowohl Fenster zur Fremde als auch Schaukästen einer letztlich sehr häuslichen, für Europa typischen Praxis, die darin besteht, sich natürliche und kulturelle Formen anzueignen, um sie in die Angewandten Künste ebenso wie in die Malerei zu integrieren. Seine Negativbilder erinnern andererseits an die Anfänge der Fotografie und die heutzutage geradezu archäologische erste Heliogravüre von Nicéphore Niépce, deren grobe Körnung die Formen der dargestellten Objekte kaum erkennen lässt. Westermanns Werke beleben darüber hinaus auch die Tradition des Blumenstilllebens wieder, einer Gattung, die von der Académie royale de peinture et de sculpture als die niedrigste angesehen wurde und daher hauptsächlich Frauen vorbehalten war. In der antiken und niederländischen Tradition galten Blumenstillleben jedoch als Allegorien der Eitelkeit und wurden als Sinnbilder des Überflusses und der Überlegenheit der Natur gegenüber der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens hochgeschätzt.

An der Schnittstelle dieser Traditionen stellen Westermanns Werke nun die Blume in eine ganz neue Bildlogik: Sie wird zum Symbol kultureller Migrationen. Indem der Künstler Details aus so trivialen Gegenständen wie Porzellandekoren, Handbüchern oder bourgeoisen Ornamenten herauslöst, thematisiert er den geopolitischen und mythografischen Hintergrund dieser Blumen. Anders als in den Installationen und Fotografien von Taryn Simon und Kapwani Kiwanga tragen seine Blumen keine streng politische Botschaft. Es sind historische Pflanzen, die verwandelt und hinter der Glasscheibe sozusagen kristallisiert werden. Diese floralen Röntgenbilder hinter Glas verkörpern eine Geste, die man als bildhaft und zugleich wissenschaftlich bezeichnen kann, denn sie speist sich aus den vielfältigen Geschichten und Verläufen, die die Präsenz des Bildes in einem speziell für eine neue Darstellung der Pflanze konzipierten Raum vor einem leeren und negativen Hintergrund befeuern und rechtfertigen.

Während Westermanns Bilder die Vorstellungswelt des Fensters, des schwarzen Bildschirmes und der Vitrifizierung entfalten, weist seine künstlerische Praxis auch Ähnlichkeiten mit der Bildhauerei auf. Wie eine Skulptur durch das Abtragen etwa des Steins entsteht, resultieren seine Blumen aus dem sukzessiven Entfernen der schwarzen Bildschicht. Sie werden in eine neue künstliche Umgebung gesetzt und hinter Glas – beziehungsweise dem modernen Avatar, dem Plexiglas – zwischen zwei temporalen Ebenen, zwischen Transparenz und Opazität, eingefroren. Nicht mehr ganz Blume, aber auch keine Zeichnung oder Fotografie, ist der mineralische Geist der Pflanze das Ergebnis der Beachtung eines zweitrangigen, vernachlässigten und marginalen Elements, das ursprünglich nur wegen seiner dekorativen Eigenschaften geschätzt war. Durch die akribisch vorgenommene, handwerkliche Verpflanzung mittels Vitrifizierung verleiht Westermann seinem Prozess des Freilegens des Bildmotivs auch eine zeitliche Dimension und verweist damit auf die Anfänge der Fotografie und die für die Entwicklung des Bildes notwendige Dauer. Diese Zeitreisen durch die Kunstgeschichte und Geografie des dekorativen Stilllebens sind Ausschnitte beziehungsweise Fragmente der Geschichte. Wie bei einer ultimativen Aneignungsgeste der Fixierung im Bild sind es aber letztendlich wir selbst, die mit unserem Spiegelbild von Westermanns Glasspiegeln absorbiert und so ironischerweise selbst Teil des Dekors werden.


1 Jay David Bolter und Richard Grusin, Remediation. Understanding New Media, Cambridge (MA) 1998, S. 11 f.

2 Aline Averbouh u. a., Manifeste du Muséum. Migrations Reliefs, Muséum national d’histoire naturelle, Paris 2018, S. 15.

 

Übersetzung: Marcel Saché

Publiziert in Vitromusée Romont (Hg.), Thilo Westermann et l'art de dessiner sous verre, Berlin/Boston 2022, S. 151–157.