„Liebe-r X,
Ich schreibe Ihnen heute, um Ihnen einige Neuigkeiten mitzuteilen …“ Stellte man sich einen fiktiven Brief vor, so könnte er mit diesen wenigen einleitenden Worten beginnen, die die imaginäre Welt des Briefwechsels ausmachen, wie er vor der Zeit der elektronischen Nachrichten florierte. Eine Brieffreundschaft zu unterhalten, war jedoch stets mehr, als nur von sich hören zu lassen. Man schreibt einen Brief nicht wie eine Postkarte, eine Rohrpost oder einen Notizzettel: Man muss Zeit aufwenden, um von sich zu erzählen, mit einem oder einer Abwesenden ins Gespräch zu kommen und ihn oder sie zu einer Antwort zu verleiten, damit der Austausch weitergeht und beständig angeregt wird. Der Briefwechsel ist mehr als ein Informationsaustausch, er ist sowohl ein sozialer als auch vertraulicher Akt. Dies mögen die Briefwechsel von Schriftstellern oder Künstlern bezeugen, die als vollwertige Werke herausgegeben und zwischen Tagebüchern und autobiografischen Schriften eingeordnet werden.
Einen Brief zu schreiben, bedeutet natürlich, die eigene Geschichte zu erzählen und die Selbstdarstellung ganz einem Text zu überlassen. Passende Sätze, aber auch Unabgeschlossenes, den Austausch wieder Belebendes oder Bekenntnisse gehören zu den kleinen Details, die einen Brief fesselnd machen und zum Weiterlesen verführen. Es geht auch darum, mit dem anderen zu sprechen, über den anderen zu sprechen, ihn zu beschreiben, ihm die Gefühle mitzuteilen, die man vielleicht ihm oder ihr gegenüber hegt – all das spielt eine Rolle, wenn man will, dass auf einen Brief ein weiterer folgen soll. Sich an den anderen zu wenden, der zum Zeitpunkt des Schreibens schweigt, ist zudem auch eine Möglichkeit, von sich zu sprechen, sich persönlich zu öffnen, wie Jacques Derrida in Die Postkarte schreibt. Diese Intimität und Nähe zum Autor oder zur Autorin des Briefes gibt uns das Gefühl, in einen Dialog hineinzuplatzen, der a priori nicht für uns bestimmt ist. Dennoch findet in Briefen eine Selbstinszenierung statt, bei der allmählich eine Stimme und ein Charakter konstruiert werden. Im vorliegenden Fall offenbart der artist in residence sich selbst ebenso wie seine Faszination für exotische Blumen, seine Zweifel und Experimente sowie die kleinen Geschenke, die er der unerreichbaren und geheimnisvollen Stéphanie sendet, die entschieden still bleibt. Sich an Stéphanie zu wenden, ist eine Möglichkeit, mit sich über sich selbst wie mit jemand anderem zu sprechen, als teile man sich in einer Selbstbeobachtung à deux mit.
Über die Vorstellung der Korrespondenz zwischen zwei Personen entfaltet sich ein imaginärer Raum der Beziehung zum Anderen. Zeitverzögert erstreckt diese sich über einen gemeinsamen Zeitraum, in dem Warten und Aufregung einander ablösen. Einmal entsandt, ist sie einem Schreiben anvertraut, das auf Reisen geht und vielleicht zurückkehrt. Dieses Hinziehen in Raum und Zeit begünstigt Träumereien, nährt aber auch durch die Briefe selbst geförderte – oder nicht geförderte – Fantasievorstellungen. Im Französischen hat das Wort „relation“ mehrere Bedeutungen. „Faire la relation d’un évènement“ meint, dass man faktisch über ein Ereignis berichtet. „Avoir une relation“ bedeutet, dass man eine Beziehung eingeht, eine „Geschichte“ intimer, verliebter oder sexueller Art am Laufen hat. „Avoir des relations“ zeigt dagegen an, Beziehungen zu haben, wichtige, mächtige Leute zu kennen, mit denen man „in Beziehung tritt“ („entrer en relation“) bzw. ins Gespräch kommt, um Geschäfte zu machen. Und wenn man sich regelmäßig schreibt, unterhält man eine „relation épistolaire“ (Brieffreundschaft) – ein unerschöpfliches Thema, das zu einem der bedeutendsten französischen Romanen geführt hat, den Gefährlichen Liebschaften (Les Liaisons dangereuses, 1782) von Choderlos de Laclos.
Diese Briefbeziehung, die sich zu einer Liaison ausweitet, ist in den Schreiben erotisch aufgeladen und provoziert Tausende über Kreuz laufende Intrigen zwischen dem Verführer und Freigeist Valmont, der perfiden Madame de Merteuil und der fast unschuldigen Madame de Tourvel. Das schwindelerregende Hin und Her aus Botschaften, Notizen und langen Briefen lässt eine Geschichte entstehen, aus der keiner der Protagonisten unbeschadet hervorgeht. Die Briefe können auch vergiftete Inhalte haben. Die Liaisons (eine andere Möglichkeit, die Bedeutung des Wortes „relations“ auszudrücken) sind in der Tat potenziell gefährlich, da sie bereits durch andere Hände gegangen sind, die nicht immer vertrauenswürdig erscheinen. Bietet ein gestohlener Brief, ein verlorener Brief oder eine nie eintreffende, vom Pech verfolgte Antwort nicht tausend Möglichkeiten im Roman? Natürlich werden Briefe nicht immer nur von Verliebten geschrieben. Sie waren lange Zeit das einzige Kommunikationsmittel. Kriege wurden per schriftlicher Botschaft erklärt oder es wurde damit Frieden geschlossen. Dank ihnen erfand man aber auch neue Arten des Schreibens.
Obwohl Marivaux mit seinem Stück Das Spiel von Liebe und Zufall (Le Jeu de l’amour et du hasard, 1730) in die Geschichte eingegangen ist und der Begriff „Marivaudage“ zur Bezeichnung amouröser Verwechslungsspiele auf ihn zurückgeht, ist es kaum bekannt, dass er sich in seinen minder berühmten Zeitungen auch der Kunst des fiktionalen Briefeschreibens hingab. Diese erschienen zwischen 1721 und 1734 und wurden vor allem im Falle des Spectateur français nach dem Vorbild des englischen Spectator angelegten. Damals hatten Zeitungen nicht unbedingt die Aufgabe, über aktuelle Ereignisse zu berichten, sondern eher allgemeine Nachrichten aus der Welt zu verbreiten sowie den Leser zu erfreuen. Sie enthielten Geschichten, philosophische Allegorien, Übersetzungen, Essays und eingefügte Briefe und bildeten ein abwechslungsreiches Ensemble, das die Neugier der Leserinnen und Leser zu befriedigen und sie zu unterhalten wusste. Die Briefe galten darin als besonders köstliche Rubrik. Manchmal wurden sie von jungen untröstlichen Frauen geschrieben oder von solchen, die ihr Herz ausschütten wollten. Sie erinnern dabei durchaus an jene weiblichen Stereotypen, denen man später in den Gemälden von Jean Baptiste Greuze begegnen konnte und die von jenem bürgerlichen Sentimentalismus zeugen, wie er in der Zeit vor der Französischen Revolution in Mode war. Die Briefe sind wie Leserbriefe konzipiert und an den Chefredakteur adressiert. Es wurden darin Emotionen und Gefühle ausgedrückt, aber auch moralische Fragen gestellt, die der Spectateur français pflichtschuldig beantwortete. In Wirklichkeit stammen die Briefe aber von Marivaux selbst. Diese Vorliebe für den fiktiven Brief lässt sich nicht allein auf den freigeistigen roman libertin zurückführen, der seine Handlung aus mehreren Stimmen und Adressaten aufbaut wie ein großes über die Zeit gestreutes Theaterstück, in dem sich die Antworten in einem sehr langsamen und gedehnten Rhythmus entfalten. Hinter jedem Brief steckt auch der Verdacht, dass es sich um eine Fälschung, eine Fiktion, eine Kopie oder um ein Schreiben nicht an einen einzelnen Empfänger, sondern an ein breites Publikum handelt. Zugleich vertraulich wie öffentlich, kommt dem Brief ein zweideutiger Status zu zwischen Authentizität und Kontingenz, Realität und Fiktion.
Auf diese Weise ist auch die Kunstkritik entstanden oder zumindest deren moderne Vorgeschichte. Ausgehend von einem Briefwechsel zwischen ihm und Friedrich Melchior Grimm, verfasste der französische Philosoph Denis Diderot zwischen 1759 und 1781 erste Rezensionen über die Salons der Pariser Académie Royale de Peinture, die Grimm bei ihm für seine Zeitschrift Correspondance littéraire in Auftrag gegeben hatte. Gänzlich von Hand geschrieben, entkam diese Zeitschrift der Zensur, der nur Druckschriften unterlagen, und begründete den Erfolg von Diderots berüchtigten Salons, jenen Texten, die metonymisch sowohl die Ausstellung als auch deren Kritiken bezeichnen. In diesen amüsiert sich Diderot und lässt seiner Fantasie freien Lauf. Er wendet sich an das Junge Mädchen, das seinen toten Vogel beweint (1765) auf einem Bild von Greuze [Abb. 21]. Er fragt sie, was ihr denn zugestoßen sei und warum sie nichts sage:
„Aber, Kleine, Ihr Schmerz ist ja so tief; es liegt darin soviel Nachdenken! Warum dieser nachdenkliche und melancholische Ausdruck? Wegen eines Vögelchens? Sie weinen nicht, Sie sind bekümmert, und das Denken begleitet Ihren Kummer. Also, Kind, schütten Sie mir Ihr Herz aus, sagen Sie mir die Wahrheit: Ist es wirklich der Tod dieses Vögelchens, der Sie so tief und so traurig in sich gehen lässt? … Sie schlagen die Augen nieder, Sie antworten mir nicht […].“*
Wo Diderot sich das Innenleben des Bildes vorstellt und das Mädchen durch sein Schweigen zum Sprechen bringt, stellt sich Thilo Westermann das Leben Stéphanie de Beauharnais’ als Leben einer Kunstsammlerin vor. Zunächst wendet er sich an ein Bild, das dann aber zu seiner Gesprächspartnerin wird, die der Entwicklung des künstlerischen Schaffens und seinem Werdegang folgt. Westermann teilt mit ihr seine Eindrücke aus der Pflanzenwelt, seine Gedanken zur Spiritualität oder den orientalischen Exponaten im Badischen Landesmuseum. Nach und nach tauchen auch politischere Fragen auf zur Haltung musealer Sammlungen zum Kolonialismus und natürlich zur Herkunft exotischer Pflanzen, wie etwa der Amherstia Nobilis [S. 179], einer ornamentalen und dekorativen Pflanze, deren Illustrationen von Nathaniel Wallich (1786-1864), dem dänischen Botaniker und Leiter des botanischen Gartens von Kalkutta, in Auftrag gegeben wurden, um die exotische Pflanzenwelt beim europäischen Publikum bekannt zu machen. Über das Bild Stéphanies und das Zwiegespräch im Brief ergeben sich Verflechtungen mit anderen Geschichten, wie etwa derjenigen von Napoleons Adoptivtochter, die nach ihrer Heirat Großherzogin von Baden wurde und mit der Legende von Kaspar Hauser in Berührung kam, jenem versteckten Kind, das der Erbprinz gewesen sein soll. Dieses mögliche Familiengeheimnis, dem zufolge ein kleiner Junge jahrelang eingesperrt worden sei, wirft einen dunklen Schatten auf den offenkundigen Luxus eines Lebens im Rosengarten, in dem die Rolle der Frauen darin bestand, utopisch-chimäre Gärten mit Pflanzen aus aller Welt anzulegen. Im Hintergrund entwickelt Westermann einen Fond, in dem der Seeweg nach Indien, geopolitische Streitfragen und die falsche Unschuld exotischer Blumen den Prunk imperialer Anwesen untergraben [Abb. 22]. In den Briefen an Stéphanie verweben sich viele Erzählungen, die zugleich persönlich, fantasiert oder auch historisch belegt sind und in jenem glorreichen kolonialen Europa wurzeln, dessen Schattenseiten Westermann mit seinen Bildern im Negativverfahren sozusagen röntgenartig durchleuchtet. Die Briefe stellen den Künstler vor, berichten von seinen Anliegen und Sorgen, von seinem künstlerischen Schaffensprozess, der ihn zu den großformatigen schwarz-weißen Unikatdrucken führt. Sie stellen aber auch eine andere, eher dunklere und pervertierte relation her, die im Filigranen aufscheint – nämlich den Preis, den die schönen Bilder und schönen Geschichten fordern.
* Denis Diderot, „Salon de 1765“. , in ders., Salons, Paris, Gallimard, 2008; Ästhetische Schriften, Erster Band, herausgegeben von Friedrich Bassenge, übersetzt von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main /Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1968, S. 567.
Übersetzung: Heinke Wagner
Publiziert in Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hg.): Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 263–268.