Hans-Jürgen Hafner  Der falsche Platz ist gar nicht schlecht (2022)

I.

Canvases begin to glow like jewels, using the play of light on glass and gold; Ming porcelain or mother-of-pearl, for reflections of radiant translucence.“1

Die Erde ist längst umrundet und wird von einem zunehmend engmaschiger werdenden Netz internationaler Handelsbeziehungen strukturiert als der niederländische Maler Willem Kalf (vor 1619 – 1693) im Jahr 1662 sein heute im Besitz der Berliner Gemäldegalerie befindliches Stillleben, wie es heute heißt, „mit chinesischer Terrine“ (Abb. 83) malt. Es ist eines von vielen kleinformatigen Gemälden von der Hand Kalfs, auf denen Objekte unterschiedlicher Herkunft angeordnet sind. Venezianisches Glas, Teppiche aus dem arabischen Raum, Porzellan aus China, aber auch frischer, sozusagen vor der Haustür gefangener Hummer, mehr oder weniger exotische Südfrüchte und kräftiger, dafür in extra fragilen Gläsern servierter Madeirawein finden sich hier zu gleichermaßen internationalen wie interkulturellen Ensembles arrangiert. Der heutige, von Supermarktregalen und sogar noch mehr durch Computerdisplays in Sachen simultaner Verfügbarkeit gesättigte Blick hat sich längst an solch ein Nebeneinander von Dingen aus unterschiedlichen Weltteilen, Zeit- und Klimazonen gewöhnt. Wir gehen davon aus, dass buchstäblich „alles“ immer schon „da“ und „jederzeit“ verfügbar ist. Das gilt in gewisser Weise sogar für die Kunst, der jedes Thema und jedes Mittel gleichermaßen recht sein kann. Zu entscheiden, was Kunst ist, setzt entsprechend die Frage nach dem Ort bzw. der spezifischen (historischen, diskursiven, sozialen etc.) Situation voraus. Was Kunst ist, hängt davon ab, „wo“ und „wann“ bzw. „unter welchen Bedingungen“ sie ist. An Kalfs Bildern besticht aus heutiger Perspektive vor allem die stupende malerische Ausführung, die auch schon die Betrachter:innen von einst beeindruckt hat. Die damals stark nachgefragten und entsprechend teuren Prunkstillleben Kalfs fangen laut dem britischen Kunsthistoriker Simon Schama analog zu den dargestellten Dingen selbst in der Tat an, „wie Juwelen“ zu glänzen.2 Geheimrat Goethe etwa hat einmal versichert, er würde, vor die Wahl gestellt, selbstverständlich Kalfs Bildern den Vorzug vor den so kunstvoll darauf wiedergegebenen Gefäßen geben, seien sie auch aus echtem Gold. Verfügbarkeit ist in der Tat ein Thema von Kalfs Bildern, die der damals jungen Gattung der so genannten pronkstilleven zuzählen. Es geht darin um Dinge, die es gibt und die man haben wollen kann. Die ebenso unterkühlten wie prunkvollen Inszenierungen von Wohlstand und Kultur reflektieren die wirtschaftliche Prosperität der Niederlande – auch ein Ergebnis des Fernhandels, als dessen Kollateralschaden sich die bis heute andauernden Effekte kolonialen Imperialismus’ herausgestellt haben. Die coole Selbstverständlichkeit, mit der sich hier materieller Wohlstand und Exklusivität als Sonderfall der Verfügbarkeit darstellen, leitet sich aus der Komposition der etwa eine Generation älteren banketjestukkenher, ohne das Genre dabei gänzlich abzulösen. Diese ungleich bescheideneren Frühstücksstillleben gehören noch ganz einer heimischen Ding- und Genusswelt an. In solchen Bildern, für die unter anderem die Maler Pieter Claesz (um 1596 – 1661) und Willem Claeszoon Heda (um 1594 – um 1680) berühmt geworden sind, trifft Hering brav auf Käse, ein heller Rheinwein begegnet einem Kanten Brot (Abb. 84). Letzterer liegt auf einem Stück Leintuch aus, der Wein steht hoch im schweren Römer. Statt exquisiten chinesischen Porzellans sehen wir hier ein Stück rustikalen Steinguts, gefertigt in der Region, oder höchstens eine prächtig gefasste Nautilusschnecke (Abb. 85). Die nicht minder exquisite malerische Qualität dieser Bilder unterschlagend, schlägt Simon Schama vor, Stillleben dieser Art nicht als Bildrätsel zu deuten, sondern sie materialistisch als „Landkarten“ – etwa des Gaumens – zu lesen. Das Kartenmachen, darauf weist die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers hin, ist eine wichtige, visuelle Kompetenz, die sich parallel zur Kunst der Malerei entwickelt und in ihr starken Wiederhall findet.3 Die Wege wären hier noch vergleichsweise kurz und dennoch kontrastreich, dufteten nach salzigem Fisch und fruchtigem Rheinwein.4 Eine Generation später sind diese Landkarten in puncto Logistik komplexer geworden, die Zeit, auf die sie verweisen, vielfältiger und zugleich knapper. Internationale Handelsrouten erforderten eine immer aufwändigere Ökonomie und Verwaltung. Auch in diesen Bildern ticken Taschenuhren und zeigen, wie schon in den eine Generation älteren Frühstückszenen, die mechanische Standardisierung von Zeit. Zeit wird Geld, umso mehr im Überseehandel. Bis zum Jahr 1657 hatten die unter dem Namen „Ostindische Kompanien“ zusammengefassten Handelsgesellschaften laut dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Michael St. Clair rund drei Millionen Stücke chinesischen Porzellans nach Europa verschifft.5 Wenn wir diese Bilder also als Karten lesen, haben sich die darauf verzeichneten temporalen, ökonomischen und sozialen Strukturen verändert. Sie sind ungeachtet der materialen Prägnanz, die Kalf für die malerische Repräsentation der auf Basis dieser Strukturen verfügbar gewordenen Dinge aufwendet, oder vielleicht gerade trotzdem, ein wenig abstrakter geworden. Diese Abstraktion wird zugleich gehöht und konterkariert durch die handwerkliche Brillanz des Künstlers.

Die exotischen Dinge, die in die sorgsam gemalten Stillleben Kalfs eingehen, zeugen zudem von wachsender Mobilität. Doch wenn Dinge reisen, dann auch Bilder. Anders aber als etwa die Bilder, die auf Münzen, Siegeln und in Form von Gebrauchsgrafik längst die Welt zu umrunden begonnen hatten, konnten gerade die gemalten Bilder ihren Status durch die neu gewonnene Mobilität befestigen. Das ist nur scheinbar paradox. Beweglich geworden, hatten diese bereits zur Zeit Kalfs ihre Selbstständigkeit als Tafelbilder in zweifacher Abgrenzung gegenüber dem malerischen Kunsthandwerk und gegenüber ihrem festen Platz als kommissionierte Requisiten herrschaftlicher Repräsentation bzw. der Religionsausübung als Gattung der Kunst etabliert. In anderen Worten sehen wir Bilder, die unstrittig „Kunst“, aber auch „Ding“ geworden sind.

II.

Die Frage, wo denn nun die Kunst sei, stellt sich in Thilo Westermanns „Paeonia lactiflora“ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014(Abb. 86) in geradezu drängender Weise. Die mittelgroße Fotografie ist auf das im Titel genannte Jahr datiert und zeigt im Hochformat die Aufnahme eines prunkvollen Interieurs, das allerdings wie in einen Gang oder eine Lobby hineingequetscht ist. Durch den Bildausschnitt zudem unterstützt, ergibt sich hierbei eine etwas gedrängt wirkende Situation – auch weil der Bildraum durch den in der Fotografie abgebildeten architektonischen Raum begrenzt ist. Dadurch wirkt die Komposition wie ein Guckkasten. Darin entfaltet sich ein Ensemble verschiedener Objekte, in deren Zentrum seinerseits ein Bild steht. Dieses ist eine Art Grisaille vor schwarzem, offenbar hinter Glas kaschierten Grund. Die konkrete Machart dieses Bildes lässt sich darüber hinaus allerdings nicht identifizieren. Größe und Herstellungsweise deuten auf ein industriell gefertigtes oder manufakturiertes Produkt hin, wie es seit Ende der 1990er Jahre zum Präsentationsrepertoire künstlerischer Fotografie, etwa als Diasec-Objekt, gehört. Das Stillleben, diesmal mit chinesischer Vase, bestimmt als Bild im Bild die gesamte Komposition ohne sich dabei in den Vordergrund zu drängen. Es ist vor der braunen Holzvertäfelung platziert, die den Bildraum definiert und hängt zentral über einem barockisierten Konsoltisch. Darauf steht außerdem, und wiederum mittig, eine metallene Blumenschale, die von unten noch etwas in das dahinter hängende Stillleben hineinragt und dessen unteren Teil verdeckt. Ein Lichthof, dessen Quelle unklar bleibt, überwölbt von der Oberkante des Stilllebens her die Szene und setzt die Blumenschale ins „rechte Licht“. In dem schwarz-monochromen Hintergrund des Stilllebens spiegelt sich im oberen Teil außerdem ein mehrflammiger Leuchter. Der hängt offenbar von der Decke ab, wird aber vom oberen Bildrand der Fotografie abgeschnitten. Ein reich ornamentierter, wiederum barockisierter Teppichboden rundet das Interieur ab, das einerseits exklusiv, andererseits aber auch wenig spezifisch, seriell „designt“ wirkt.

Der Eindruck des Designten und vielleicht Künstlichen ist es auch, der vorrangig von der Fotografie ausgeht. Sie ist – was Ausschnitt, Beleuchtung, Komposition, Tiefenschärfe, farbliches Timbre etc. betrifft – sichtlich so gewollt. Vom Motiv an und für sich her wäre allerdings nicht zu entscheiden, ob dieses „Wollen“ ein spezifisch künstlerisches ist oder schlicht technische Kompetenz und handwerkliche Professionalität am Werk sind, die die Kunst fotografischer Anwendung demonstrieren sollen. Alles in allem ist der Blick der Kamera auf das Ensemble so nüchtern und neutral, wie das Ensemble selbst erscheint. Dennoch geht es hier weder um Dokumentation noch um eine ästhetische oder konzeptuelle Reflexion des Dokumentarischen als Register der Bildinszenierung oder als Genre der Repräsentation. Auch ist nicht recht entscheidbar, was nun an diesem Motiv über die Themen „Interieur“ oder „Design“ hinaus sehenswert sein soll. Einer Fotografie wie dieser könnte man leicht in einem Magazin für Inneneinrichtung, einem Musterkatalog oder einer etwa über den Computer erfahrbaren Online-Selbstdarstellung beispielsweise eines Hotels begegnen.

Natürlich nehmen wir, wenn uns diese als Diasec-Objekt präsentierte Fotografie in einer Ausstellung oder als Reproduktion in einer Kunstpublikation begegnen sollte, wohlwollend an, dass es sich dabei um eine künstlerische Arbeit handelt. Aber sogar dann mischen sich ihr Anteile bei, die eher auf die Begleitumstände von Kunst oder deren Anwendung hinweisen. Das Diasec-Verfahren stammt ursprünglich ja aus der Werbung, bevor es Ende der 1980er Jahre von Vertreter:innen der – für Liebhaber: innen wertsichernder Genres – Düsseldorfer Fotoschule kunstfähig und visuell/präsentationstechnisch geradezu synonym mit sogenannter „Fotokunst“ gemacht wurde. Und Kunstpublikationen kommen, in dem Moment wo das Ausstellen für die Realisation künstlerischer Arbeiten „als Kunst“ regelrecht konstitutiv geworden ist, kaum mehr ohne Referenzabbildungen von Ausstellungsituationen, sogenannten Installationsansichten, aus.

Wo genau und wann war gleich noch mal die Kunst? Was speziell ist die Kunst an Westermanns Bild? Nun, immerhin haben wir einen Titel, der uns hilft, das bisher Gesehene zu platzieren: „‚Paeonia lactiflora’ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014“ nennt Westermann dieses komplexe und, wie wir gemerkt haben, schwer auf eine homogene, eindeutige Lesart – „Das ist die Kunst!“ oder „Sie ist Fotografie und diese handelt von schönen Dingen.“ – festzunagelnde Bild. In der Tat, so mein Vorschlag, handelt die Arbeit von der Schwierigkeit – und bezieht genau daraus ihre Attraktivität –, den Ort der Kunst zu bestimmen. Die Fotografie selbst – als materiale Darreichungsform für ein Bildmotiv, als Medium oder Genre – fällt dafür ebenso aus, wie die Komposition des Dargestellten, dessen Ikonographie, Inszenierung oder Rhetorik.

Wir haben bisher zwar ausführlich von Westermanns Bild aber noch gar nicht recht über dessen Titel „‚Paeonia lactiflora’ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014“ gesprochen. Dieser sehr lange, sehr zusammengesetzte Titel lenkt in verschiedene Richtungen. Aber auch er gibt keine Hilfestellung, wo denn nun genau die Kunst zu finden, was deren Ort wäre. Wenn nicht über den Ort der Kunst, so informiert er doch zumindest über den Schauplatz und grenzt das Zeitfenster ein, an dem das Bild entstanden, die Fotografie aufgenommen wurde: in den New Yorker Waldorf Astoria Towers in 2014. Das würde sich mit den bisher gemachten Beobachtungen vom standardisierten Luxus des fotografierten Interieurs gut zur Deckung bringen lassen, in dessen Zusammenhang Kunst zwar durchaus vorkommen kann, in dem sie aber keinen rechten Platz hat. Entsprechend unpersönlich und unkünstlerisch, von Resten des Subjektiven getilgt, fällt die Fotografie ja auch insgesamt aus.

Um den ersten Teil des Titels aufzulösen, braucht es einen Blick ins Werkverzeichnis Westermanns. Dort findet sich „Paeonia lactiflora“ gleich mehrfach wieder. Einmal existiert eine bisher drei Teile umfassende Serie von Bildern, die alle jeweils unter diesem Titel, zudem numerisch auf das spezifische Motiv hin präzisiert, kursieren. Als Motiv zeigen sie jeweils eine Kombination aus einer Paeonia lactiflora – so der botanische Name der sogenannten „Chinesischen Pfingstrose“ – und unterschiedlichen, wiederum aber jeweils chinesisch aussehenden aber vielmehr chinoisen Vasen. Zweitens existieren die Bilder dieser Serie in zwei, jeweils motivgleichen aber technisch und vom Format her unterschiedlichen Versionen. Einmal, so klärt uns die Legende auf, gibt es sie in der vergleichsweise entlegenen und aufwändigen Technik der Hinterglasmalerei. Alternativ dazu gibt es sie um ein Mehrfaches vergrößert in Form so genannter Unikatdrucke. Zwischen den beiden Versionen besteht technisch und konzeptuell ein Zusammenhang. Die delikaten Hinterglasmalereien stellt Westermann eigenhändig her. Ergebnis des aufwändigen und beim Machen selbst schwer zu „überblickenden“ Herstellungsprozesses sind Miniaturen, in denen die Genres „Stillleben“ und „Porträt“ mit konzeptueller Referenz auf das spätestens im Barock etablierte und nunmehr sogar noch ins Exotische gewendete Vanitas-Motiv zusammenfallen. Ausführung, Motivik und die Rhetorik der Bildinszenierung halten sich dabei gegenseitig in Schach: So kunstvoll die Bilder auch sind, sticht an ihnen eher das Künstliche als die Kunst hervor. Doch sind die hierbei entstehenden Artefakte in ein Programm einbezogen, das generell einen Diskurs über Bildlichkeit eröffnet. Die Hinterglasmalereien fungieren nämlich als Vorlage eben für Westermanns danach gemachte Unikatdrucke, als die er die Vorlage stark vergrößert, aber im Status gleichwertig präsentiert. Beide Versionen firmieren gleichermaßen aber in der Sphäre der Rezeption dennoch voneinander unabhängig als autonome Werke. Es gibt auf dieser Ebene keine grundsätzliche Unterscheidung – oder Wertung – zwischen Handwerk und industrieller Produktion, zwischen der eigenhändig hergestellten Vorlage als „Original“ und der mittels digitalen Scan- und Drucktechniken produzierten Version. Diese ist zumindest aus technischer Sicht aber auch mit Blick auf den Ablauf der Bildherstellung nichts anderes als eine „Reproduktion“. Zuletzt finden wir im Werkverzeichnis auch unsere „Paeonia lactiflora“ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014 wieder und können, auch wenn sie als Auflage ausgewiesen wird, endlich sicher sein, dass es sich dabei ebenso um ein Werk und nicht etwa eine Dokumentation handelt.

Auf dieser Grundlage können wir verschiedene Punkte festhalten: Die Vanitas mit chinesischer Pfingstrose in einer Vase mit Drachenrelief, wie sie in der Fotografie „Paeonia lactiflora“ in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014 zu sehen ist, entspricht von der Größe und dem Format her der Version als Unikatdruck. Diese wird als Bild im Bild eingesetzt und ist als Kompositionselement ins Interieur insertiert, mit dem sie zu einem Ensemble verschmilzt. Denn tatsächlich fordert sie keine besondere Aufmerksamkeit gegenüber den anderen Komponenten. Zwar ist Paeonia lactiflora zentral in die Bildmitte gerückt, doch tritt das Bild zugleich diskret in den Hintergrund, teilweise verdeckt von dem Blumenarrangement und beeinträchtigt durch die Spieglung des Lüsters. Ja, es scheint ganz in der luxuriösen Leere des Hotelinterieurs aufzugehen. Was wir nicht wissen ist, wie das Bild der chinesischen Pfingstrose da überhaupt hin und sozusagen „mit aufs Foto“ gekommen ist. Im Sinne einer Beweisfotografie – Paeonia lactiflora in den Waldorf Astoria Towers, New York 2014 – können wir nur feststellen, dass dieses Werk irgendwie an dem entsprechenden Ort war. Daraus müssen wir immerhin aber eine konzeptuell übergreifende künstlerische Operation ableiten, die sich auf mehrere, untereinander vielleicht nicht reibungslose Schritte an verschiedenen Orten – Atelier und Fotolabor für die Produktion, Hotel für die Präsentation – und auf unterschiedliche Handlungen und Kompetenzen – Malen und Fotografieren, Präsentieren und Dokumentieren – verteilt. Westermann ist also nicht nur Produzent von Bildern, er bezieht auch ihre Präsentation und Rezeption als Aspekte seiner Arbeit ein, die sich gleichwohl insgesamt hauptsächlich in Bildern äußert.

III.

„The collection and presentation of art has always been a display of social and economic standing before being an exhibition of aesthetic value.“6

Sehen wir uns – vielleicht im Sinne der Kontrastierung – ein einschlägiges Bild an. Dieses kommt „mit chinesischer Terrine“: Louise Lawlers epochemachendes Pollock and Tureen, Arranged by Mr. and Mrs. Burton Tremaine, Connecticut (Abb. 88). Diese Fotografie ist als etwa mittelgroßer Cibachrome-Abzug im Querformat hergestellt; und wie ein Großteil von Lawlers fotografischen Arbeiten kursiert es sowohl der medieninhärenten Quantifizierbarkeit wie den Exklusivitätsansprüchen des Kunstmarkts entsprechend in kleiner Auflage. Das Bild ist horizontal und deutlich in eine obere und in eine etwas größere untere Partie getrennt, die eine das Format quer durchschneidende Holzleiste, eine so genannte Schattenfuge, markiert. Im Fokus der Fotografie steht die im Titel angezeigte chinesische „tureen“, ein Stück Ming-Porzellan, das explizit in die Bildmitte gerückt, wenngleich in dessen unterer Partie platziert ist. Sie wird von einer Lichtquelle außerhalb der Kadrierung so von oben beleuchtet, dass sie einen leicht vergrößerten Schatten auf die wahrscheinlich hölzerne Ablagefläche wirft, worauf sie steht. Durch den Bildausschnitt fast unkenntlich, vermuten wir links und rechts neben der Terrine aufgestellte chinesische Essschalen mehr, als dass wir sie tatsächlich sehen könnten. Das obere Bilddrittel nimmt über die gesamte Partie hinweg ein abstrakt gemalter Fries ein, der sich trotz des radikalen An- oder Ausschnitts unschwer und vom Titel unterstützt als Malerei des für seine dripping-Technik berühmt gewordenen Künstlers Jackson Pollock (1912–1956) identifizieren lässt. Es handelt sich um dessen spätes Gemälde Frieze(1953–1955), ein schmales, überbreites Format, das sich durchaus als Fries deuten lässt und von den typischen drippings überzogen ist. Die kompositorische Entscheidung Lawlers, das Gemälde durch den von ihr gewählten Kamerafokus dermaßen krass zu beschneiden, lässt dieses in den Worten ihrer Künstlerkollegin Andrea Fraser zu einem Stück „apokalyptischer Tapete“ hinter altem chinesischen Geschirr werden.7 Ein Pollock ist wie etwa auch der Fernseher, der in einer anderen Arbeit der sogenannten Arranged by-Serie zu sehen ist (Abb. 89), eben auch nur ein Ding wie jedes andere – gerade in einer Welt, die bis in die sozialen Beziehungen hinein durch und durch „kommodifiziert“ ist. Wo alle Uhren ausschließlich die Zeit des Kapitals anzeigen.

Das „Arrangement“ ist eine zentrale Figur in der künstlerischen Praxis Lawlers, die immer wieder auch kuratorische und publizistische Arbeitsweisen einschließt. Arrangements zeigen viele ihrer meist fotografischen Arbeiten: mehr oder weniger bewusst, verantwortet oder autorisiert zustande gekommene; Arrangements, die sich im häuslichen oder öffentlichen, im kommerziellen oder institutionellen Rahmen finden lassen. Lawler arrangiert selbst: eigene Bilder, gefundene Artefakte oder die Werke von anderen Künstler:innen, dazu die betriebsüblichen Informationen zu den Werken, ihrer Provenienz und Geschichte, und schließt dabei auch Modalitäten der Präsentation mit ein: wo und unter welchen Umständen ein Ding als Kunst sichtbar wird oder als Kunst neben anderen Dingen im sozialen Gebrauch aufgeht. Für Pollock and Tureen und die anderen Arbeiten der Arranged by-Serie hatte Lawler Zugang zu den Wohnungen des Sammlerehepaars Burton und Emily Hall Tremaine in New York und Connecticut sowie zu weiteren Privat- oder Firmensammlungen erhalten. Die dort vorgefundenen Arrangements spiegeln immer auch individuelle Anliegen und soziale Beziehungen wider, spielen gerade durch die Art und Weise der Auswahl und Fokussierung ein gewisses Maß an Subjektivität ein. Auf diese Weise sind Lawlers Fotografien einerseits Gesellschaftsbilder, die das Arrangement als Figur für soziale Beziehungen zeigen, oder Porträts, in denen sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse und im Umgang mit Kunstwerken und Artefakten durch ihre Besitzer spiegeln. Andererseits nehmen diese Bilder nur scheinbar eine neutrale Position ein. Statt zu dokumentieren wird durch die Art und Weise wie der Fokus angelegt ist eine Spur des Subjektiven sichtbar. Nicht wenige dieser Bilder ließen sich nämlich mit Recht als „Ausrutscher“ – sozusagen zwischen „Figur“ und „Grund“, je nachdem, worauf der Fokus liegt – bezeichnen. Es ist nach professionellen Standards, nach formalen Kriterien nicht unbedingt ein Ausweis für gelungenes fotografisches Handwerk, wenn die Tapete mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit bekommt wie das bedeutende Kunstwerk, das darauf hängt. Pollocks Frieze begegnen wir beispielsweise in Lot #22 (Abb. 90) unter solch widrigen Umständen wieder. Diesmal ist Pollocks Gemälde nach rechts zum größten Teil abgeschnitten. Im linken Bildteil ist, gleichsam wie im Off, nur ahnungsweise die vorbeihuschende Silhouette eines Wachmanns zu erkennen, der sich ins Foto verirrt zu haben scheint. Und im Fokus steht tatsächlich die grobe Wandbespannung, auf der das Bild hängt, dazu ein Schildchen, das daneben an die Wand geheftet ist. Die Situation, die Lawler hier eingefangen hat, zeigt das gewichtige Werk im Rahmen der Vorbesichtigung zu einer Auktion, bei der am 9. November 1988 große Teile der Tremaine-Sammlung und eben auch der Pollock zum Verkauf kamen. Kein Wunder, wenn die Informationen zum Werk und dessen Provenienz hier mehr interessieren als die Kunst selbst.

IV.

„How does one measure the relationship between the valuing of craft and its collection? Or between the aim of gaining knowledge and that of gaining possession?“8

Dass sie zugleich „überall oder überhaupt nicht“9 sei, ist laut dem britischen Philosophen und Kunsttheoretiker Peter Osborne Kennzeichen der zeitgenössischen kritischen Kunst in der Ära des globalen und, man müsste ergänzen, „finanzialisierten“ Kapitalismus; und dass sie insgesamt in das Stadium des Postkonzeptuellen eingetreten wäre. Osborne lokalisiert, was Kunst sein lässt, jenseits von Beschreibungsmodellen, die nach Stoff und Form, Wesen und Erscheinung, Medium und Genre etc. unterscheiden, in der Mediatisierung selbst, die an die Stelle des (modernistischen) Mediums getreten ist. In diesem Sinne ist Louise Lawlers Kunst, wenn ihre Aufzeichnungen der sozialen, ökonomischen und institutionellen Bedingungen der Kunst, oder kurz, des Kunstbetriebs inklusive ihrer eigenen, komplizenschaftlichen Beteiligung eben auch als Produzentin von „Ausrutschern“, die ihrerseits in diesem Betrieb kursieren, buchstäblich an die Stelle der Kunst getreten. Dass ihre künstlerischen Arbeiten kritische Analysen und Aussagen zu und in diesem Betrieb ermöglichen, ist die spezifische Volte von Lawlers Auslegung der „Aneignung“ (der Kunst anderer), das als künstlerisches Verfahren das vielfältige Genre der Appropriation Art grundiert.

Verschiedene und tatsächlich „überall“ im künstlerischen Projekt Thilo Westermanns platzierte Anwendungen von Aneignung auf den Ebenen von Bildproduktion und -zirkulation sind es, die sein Werk im besten Sinne „zeitgenössisch“ und „kritisch“ machen. Dabei legt er es auf Reibungen an, etwa zwischen den Traditionen des Handwerklichen und des Konzeptuellen, zwischen unterschiedlichen Bildtypen und -genres, zwischen Originalität und Reproduzierbarkeit, zwischen dem Exotisch-Fremden und dem Eigenen und Selbstgemachten, zwischen der technischen Verfügbarkeit von Skala und Quantität und ihrer vertraglichen Regulierung durch Edition und Auflage – aber auch zwischen Wunsch und Erfüllung.

In Willem Kalfs Prunkstillleben sind Dinge unterschiedlicher Qualität und Herkunft nicht nur meisterhaft dargestellt. Eher belebte „Konstellation“ als starr in den Fokus gerückte „Stillleben“ wirken diese Dinge beziehungsreich aufeinander, ja sie inszenieren „Beziehung“ regelrecht als Stück auf der Bühne des Bildes. Ein Stück, das nicht mit den Bildgrenzen endet. Halb geöffnete Deckel, prekär schief stehende Gefäße, teilweise frisch geschälte, saftig glänzende Orangen, der Lichtreflex, der Wein und Weinpokal durchleuchtet, nicht zu vergessen, das Ticken der Uhr unterstreicht das Ereignishafte, Anekdotische dieser Bilder, die die Anwesenheit von Menschen, ihren genussvollen Gebrauch der Dinge – als Wunsch, der wirklich werden soll – ahnen lässt. Es ist dieser Wunsch, der zu Erlebnissen und Entdeckungen motiviert, der Handelsbeziehungen intensiviert, der die Beziehung zwischen Besitz und Individualismus verdichtet – und aus den Gemälden selbst Juwelen macht. Dass Kunst Objekt und Subjekt dieser Dynamik ist, davon zeugt auch Louise Lawlers künstlerisches Werk. Westermanns hinter Glas ziselierte Vanitas-Motive und seine geduldigen Buntstiftzeichnungen nach floralen Motiven finden sich in prächtigen aber unpersönlichen Hotelfoyers, auf dem Fensterbrett eines wenig attraktiven Büroraums, neben exotischen Zierpflanzen, mit anderen Bildern unterschiedlicher ästhetischer Relevanz, einer flüchtig geschriebenen, aber herzlich gemeinten Notiz mit prominenter Namenszeichnung, einer Porzellanterrine zu vielteiligen Ensembles kombiniert in oft – so ahnen wir – geschmackvoll eingerichteten Privaträumen, deren privater Charakter in den davon genommenen Fotografien allerdings nicht sichtbar wird. Man möchte hier einerseits an Wunschorte denken, environments, in denen Kunst am adäquaten Platz zu ihrer Erfüllung findet. Dazu passt, wenn Westermann – auch technisch, durch den Einsatz digitaler Montage – im Unklaren lässt, wie diese Ensembles überhaupt zustande, die Bilder an ihren Platz gekommen sind. Andererseits steht zu befürchten, dass noch der adäquateste Platz die Kunst immer schon zum Objekt degradiert haben wird; dass damit das Eigentliche zum Nebensächlichen, neben anderen Sachen, gemacht wird; dass Bilder, deren Brisanz an sich in der Zirkulation, im kulturellen Transfer, ihrer visuellen Diskursivität besteht, aus dem Verkehr gezogen werden; dass, in anderen Worten, noch der beste Platz sich irgendwie als „falsch“ herausstellt.

In diesem Sinne wird Westermanns Projekt „zeitgenössisch“ und „kritisch“, weil es gleichermaßen mit der kunstvollen Verdichtung wie mit der unbehaglichen Auflösung von Bildern als Schauplätzen, ihren verschiedenen, zueinander nie reibungslosen Zuständen als Objekt, Medium, Zeichen, Diskurs und Kontext arbeitet – mit dem Wissen, dass in einer Welt, die mehr denn je dem Prinzip des Ökonomischen unterworfen ist, alles immer schon verkauft, aber selten genug am richtigen Platz ist.


1 Simon Schama: The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age. New York (Penguin Random House) 1997, S. 166.

2 Ebd.

3 Vgl. Svetlana Alpers: The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century. Chicago (The University of Chicago Press) 1984, S. 119ff.

4 Ebd., S. 161.

5 Michael St. Clair: The Great Chinese Art Transfer. How So Much of China’s Art Came to America. Vancouver (Fairleigh Dickinson University Press) 2016, S. 91.

6 Andrea Fraser: In and Out of Place (1985), zitiert nach: Andrea Fraser: Museum Highlights. The Writings of Andrea Fraser. Cambridge (Mass.) u. London (The MIT Press) 2005, S. 17ff, S. 23.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. Alpers, a. a. O., S. 116.

9 Vgl. Peter Osborne: Anywhere or Not At All. Philosophy of Contemporary Art. London u. New York (Verso) 2013.

Publiziert in Thilo Westermann Migrations, Mailand 2022, S. 123–143.