Harriet Zilch  Correspondance avec Stéphanie. Thilo Westermann meets Stéphanie de Beauharnais (2022)

I. „Er ist nicht mehr, er, vor dem die Welt erzitterte. Er, den die Könige der Erde vergötterten und den sie verrieten.“ Napoleon ist bereits seit zwei Monaten tot, als die Großherzogin Stéphanie Louise Adrienne von Baden diese Worte 1821 in ihr Tagebuch schreibt. Verbannt auf die Insel St. Helena im Südatlantik, ist Napoleon „verstorben auf einem Felsen, mehr als tausend Meilen entfernt von seiner Familie“.

Stéphanie de Beauharnais wird 1811 zur Großherzogin von Baden, nachdem Napoleon die Nichte seiner Gemahlin Josephine de Beauharnais zunächst als „princesse française“ adoptiert und später aus machtpolitischen Überlegungen mit dem Erbprinzen Karl Ludwig Friedrich von Baden verheiratet hat. Thilo Westermann „begegnet“ der Großherzogin 2017 während eines Arbeitsaufenthaltes in Baden-Baden. In der Lobby des nach der Grande Duchesse de Bade als Villa Stéphanie bezeichneten Hotelflügels des Brenners Park-Hotels hängt ihr Porträt. Das offizielle Bildnis, ein Stich von Aloys Keßler nach einem Gemälde von Johann Heinrich Schröder [S. 187], provoziert in der Folgezeit eine vielgestaltige Beschäftigung des Künstlers mit Stéphanie de Beauharnais. Neben Hinterglasbildern und Fotomontagen, die auf dem Porträt der Großherzogin oder assoziierten Themenfeldern basieren, verfasst Thilo Westermann seit dem 17. März 2018 handschriftliche Briefe an die Herrscherin, seine Correspondance avec Stéphanie.

II. „Es gibt Menschen, die meinen, Geschichte vollziehe sich als spiralförmige Bewegung und nicht linear, wie wir vermuten. Wir bewegen uns auf einer Kreisbahn durch die Zeit, und unsere Erfahrung wächst von einem Epizentrum fort, nur um wieder, reduziert um eine Windung, dorthin zurückzukehren."1 ‍Wenn Geschichte sich nicht linear entwickelt, sondern in einer spiralförmigen Bewegung, wie es der Autor Ocean Vuong in seinem Debütroman Auf Erden sind wir kurz grandios (2019) formuliert, wie würde Geschichtsschreibung dann aussehen? Die Vergangenheit wäre dann keine definierte und ruhende Landschaft, sondern könnte immer wieder neu und aus einer veränderten Perspektive betrachtet und interpretiert werden. Den Kreisbewegungen der Geschichte folgend, könnte der Mensch sein Bild der Vergangenheit immer weiter ergänzen, könnte es polyphoner, diverser und kontextreicher werden lassen. Eine simple Chronologie der Ereignisse wäre hinfällig, denn individuelle Erfahrungen und Sichtweisen könnten auch mit zeitlichem Versatz ineinander verwoben werden.

Eine Korrespondenz involviert in der Regel zwei Menschen. Der eine schreibt, und der andere antwortet. Ping Pong. Hin und Her. Für Thilo Westermanns Correspondance avec Stéphanie ist jedoch der Tod der Großherzogin im Jahr 1860 und der Umstand, dass sie seine Zeilen weder lesen noch beantworten wird, nicht relevant. In seinen Briefen in französischer Sprache verwebt er historische Ereignisse aus dem Leben der Großherzogin mit autobiografischen Informationen und persönlichen Reflexionen. Er skizziert sein künstlerisches Schaffen und kunsttheoretisches Denken, thematisiert Alltäglichkeiten, aber auch gegenwärtige gesellschaftspolitische Fragen. Stipendienaufenthalte in den USA, in Paris und Baden-Baden werden ebenso beschrieben wie Schauplätzen in Frankreich und Baden-Württemberg, die mit der Biografie der Großherzogin eng verknüpft sind und somit auch ihre Lebensrealität spiegeln. Bisweilen verbinden sich die Themen und Fragestellungen über die Jahrhunderte hinweg, so zum Beispiel in Reflexionen über die Folgen der napoleonischen Beutekunst oder der (französischen) Kolonialpolitik, die sich bis heute in hierarchischen Mechanismen und kolonialen Strukturen zeigen. Durch die kunstfertige Verflechtung, die Thilo Westermann zwischen seiner Biografie und der Vita der Großherzogin strickt, erhalten historische Ereignisse eine neue Kontextualisierung und der Blick auf die Geschichte erweitert sich um eine Perspektive.

III. Dieser Prozess der Neukontextualisierung erscheint verwandt mit der Genese der Fotomontagen, die Thilo Westermann seit 2014 als Medium nutzt: In situ fotografiert er eine Vielzahl an Details, um die Atmosphäre eines Ortes einzufangen. Im Atelier rekonstruiert er, basierend auf diesen Aufnahmen, den subjektiv empfundenen genius loci. Auch in diesem Arbeitsprozess wird tatsächlich Vorgefundenes durch kunstwissenschaftliche Recherche, individuelle Überlegungen und autobiografische Motive erweitert. So bindet Thilo Westermann häufig seine Hinterglasbilder, Unikatdrucke und Buntstiftzeichnungen in die Fotomontagen ein. Gerade diese digital in das vorgefundene Umfeld montierten eigenen Werke suggerieren eine Verbindung zu dem spezifischen Ort, so wie in den Briefen eine dezidierte Beziehung zu Stéphanie de Beauharnais herbeigeschrieben wird.

Thilo Westermanns Briefe an die Großherzogin dienen der Analyse und der Selbstreflexion. Sie übernehmen die Funktion eines Tagebuchs und sind zugleich autobiografischer Bericht in Briefform, adressiert an eine zwar historische, aber letztlich fiktive Empfängerin, die ihm als Projektionsfläche dient. Die Correspondance avec Stéphanie erscheint prädestiniert, Thilo Westermanns Arbeit als Künstler und Kunsthistoriker zusammenzuführen. Ihm gelingt ein ebenso kluges wie einnehmendes Konstrukt, das historische wie gegenwärtige Perspektiven in einem Sprung durch die Zeit zusammenführt und zugleich gekonnt das erzähltheoretische Potenzial einer autobiografischen Selbstdarstellung nutzt. Damit stellt Thilo Westermann seine Korrespondenz bewusst in eine literarische Tradition, denn gerade in der Zeit der Empfindsamkeit diente der Brief vor allem der Gefühlserkundung wie -übermittlung. Briefe wurden nicht vorrangig geschrieben, um etwas mitzuteilen, sondern um sich mitzuteilen. Jedoch ist die literarische Tradition noch viel älter: Bereits im 13. Jahrhundert wurde ein fiktiver Briefwechsel zwischen Abelard und Heloise von den Verfassern Jean de Meung und Guillaume de Lorris in ihren Versroman Le Roman de la Rose (1280) eingebunden.

Im mittelalterlichen Roman verliebt sich der Protagonist und Ich-Erzähler in eine Rose, und auch in Thilo Westermanns Beschäftigung mit Stéphanie de Beauharnais spielt eine spezielle Rosenneuzüchtung eine tragende Rolle: Auf einem Spaziergang durch den Pariser Jardin des Plantes entdeckt der Künstler am 11. Juni 2019 zufällig eine Rosensorte mit dem Namen Souvenir de Baden-Baden und berichtet an die Großherzogin: „Hier in Paris, wo ich nun verstärkt an unserem Projekt arbeite, erinnert mich die Pflanze plötzlich an jenen Ort, wo alles begann und an dem Sie sich selbst in den Sommermonaten so gerne aufhielten. [...] Der Rosenname hat dabei zugleich etwas Elegisches. Man kann sich einer Person, Sache oder Situation ja nur erinnern, wenn man diese zuvor erlebt hat. Das bedeutet, dass im Moment des Erinnerns eben diese Sache oder zumindest das Treffen auf dieselbe bereits der Vergangenheit angehört.“

IV. A Room with a View: Neben den Briefen, die historische wie sozialgeschichtliche Forschung mit autobiografischer Selbstreflexion vereinen, entstehen im Kontext der Beschäftigung mit Stéphanie de Beauharnais seit 2017 auch neue Hinterglasbilder und Fotomontagen. Für seine Fotoarbeit „Rose Souvenir de Baden-Baden“ im Atelier des Künstlers, Paris 2019 (Abb. 16) zeichnet Thilo Westermann jene Rosenzüchtung, die er im Jardin des Plantes zufällig entdeckte und die ihn so unvermittelt an seine Zeit in Baden-Baden erinnert (Abb. 17), wie der Geschmack eines in den Tee getunkten Madeleines den Ich-Erzähler in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) gedanklich in seine Kindheit zurückversetzt. Diese Buntstiftzeichnung auf Papier integriert Thilo Westermann in eine Fotomontage, die seine Arbeitssituation im Stipendiatenatelier an der Cité Internationale des Arts Paris zeigt. Auf dem Tisch präsentiert sich die unvollendete Zeichnung und ein Stillleben aus Arbeitsmaterialien. Der Blick durch das Fenster zeigt jedoch nicht die faktische Situation vor Ort, sondern gibt einen aus mehreren Fotografien montierten Blick vom Dach des Centre Pompidou auf den Eiffelturm wieder, jenem anlässlich der Weltausstellung 1889 fertiggestellten Bauwerk, das in der Folge zum zentralen wie symbolkräftigen Wahrzeichen der Stadt wird. In der Kunstgeschichte besitzt das Fensterbild eine lange Tradition, und bereits Leon Battista Alberti nutzt in seinem Theorietraktat De pictura (1435) die Metapher vom Bild als einem offenen Fenster – fenestra aperta – zur Welt. Hier wird das Fenstermotiv verknüpft mit einer an die Zentralperspektive gebundenen Illusionsmalerei, die die dreidimensionale Wirklichkeit der äußeren Welt auf die zweidimensionale Ebene des Bildträgers transferiert. In der Folge besitzt das Motiv aufgrund seiner Polyvalenz eine fortdauernde Anziehungskraft und mäandert häufig in einer Synthese zwischen Interieur, (Stadt-)Landschaft, Stillleben und Porträt. Nicht anders ist es bei der digital konstruierten Fotomontage „Rose Souvenir de Baden-Baden“ im Atelier des Künstlers, Paris 2019, die all diese Genres gekonnt vereint und der Darstellung auch die tradierte inhärente Selbstreflexion beigibt.

V. Zurück auf Los: Die Begegnung mit Aloys Keßlers Porträtstich [S. 187] ist der Ausgangspunkt für die intensive Beschäftigung Thilo Westermanns mit Stéphanie de Beauharnais. Bereits in seinem ersten Brief beschreibt er ein Ensemble aus drei Fotomontagen, die von jenem Porträt ausgehen und durch Spiegelungen, Symmetrien und Motivwanderungen aufeinander verweisen und sich zum Teil gegenseitig zitieren (Abb. 18-20). Zwei dieser Fotomontagen zeigen das Hotelzimmer des Künstlers im Brenners Park-Hotel in Baden-Baden. Zu sehen ist der Schreibtisch mit einer filigranen Leselampe und einem Telefonapparat, der seltsam aus der Zeit gefallen scheint, da Telefone wie diese heute wohl nur noch in Hotelzimmern zu finden sind. Alle drei Montagen zeigen das Porträt der Großherzogin, das jedoch im Zimmer 642 nicht real zu finden ist, denn auch in diesem Fall setzt Thilo Westermann seine Werke aus einer Vielzahl an Detailaufnahmen digital zusammen.

Dabei wandert das Porträt der Großherzogin von Fotomontage zu Fotomontage: So zeigt sich Stéphanie de Beauharnais in „Vanda Miss Joaquim“ in der Villa Stéphanie, Baden-Baden 2017 (Abb. 18) als Covermodel eines Magazins, das auf einem Lektürestapel auf dem Schreibtisch liegt. Ihr Porträt lässt sich in „Bougainvillea“ in der Villa Stéphanie, Baden-Baden 2017 (Abb. 19) in einer spiegelverkehrten Ansicht gerahmt an der Wand finden, ergänzt durch die Buntstiftzeichnung Bougainvillea2 (S. 177), die Thilo Westermann digital in den Bilderrahmen steckt. In der dritten Fotomontage Reproduktion von „Vanda Miss Joaquim“ in der Villa Stéphanie, Baden-Baden 2017 (Abb. 20) berühren die Hände der Großherzogin nun nicht mehr die Buntstiftzeichnung, sondern eine postkartengroße Reproduktion des 2013 entstandenen Hinterglasbildes Vanda Miss Joaquim in einer Kristallvase, das als Unikatdruck wiederum in „Vanda Miss Joaquim“ in der Villa Stéphanie, Baden-Baden 2017 an der Wand hängt. Durch die wiederholte Montage eigener Werke in das Ensemble wird erneut eine dezidierte Verbundenheit mit dem vorgefundenen Ort suggeriert. Jedoch ist das Hinterglasbild Vanda Miss Joaquim in einer Kristallvase älter, und auch die Buntstiftzeichnung Bougainvillea ist nicht in Baden-Baden entstanden, auch wenn das auf dem Schreibtisch liegende Schmirgelbrettchen mit Buntstift Gegenteiliges impliziert.

Durch die Lektüre der nachfolgenden Briefe lässt sich die Genese dieses Ensembles verfolgen. Die drei Fotomontagen verändern sich im Laufe der Jahre und sind in ihrer weiterentwickelten Version noch kontextbezogener (S. 190-193): So ersetzt Thilo Westermann beispielsweise Vanda Miss Joaquim in einer Kristallvase durch das Hinterglasbild Souvenir de Baden-Baden (2020) (S. 189). Diese Arbeit zeigt ein historisches Glasgefäß, welches sich ursprünglich in der großherzoglichen Sammlung im Schloss Mannheim befand und im Original das Porträt Lord Byrons zeigt. Den britischen Dichter und Zeitgenossen Stéphanie de Beauharnais’ ersetzt Thilo Westermann in seinem Hinterglasbild durch das Bildnis der Großherzogin und fügt drei prächtige Rosen der Züchtung Souvenir de Baden-Baden hinzu, denen das Prunkglas als Vase dient. Auch andere Bildelemente werden verändert, jedoch bleibt das Porträt der Dreh- und Angelpunkt der Komposition. Dieses spiegelt sich, es wandert und verzahnt sich mit zunehmender Komplexität. So wird auch die individuelle Wahrnehmung herausgefordert, denn gerade die Fotografie ist häufig mit der Vorstellung assoziiert, sie würde ein Objekt oder Geschehen authentisch und wirklichkeitsgetreu wiedergeben. Fotografische Dokumente besitzen eine außerordentliche Glaubwürdigkeit, und es wird ihnen das Vermögen unterstellt, Zeugnis abzulegen. Die Fotomontagen von Thilo Westermann dokumentieren jedoch nie die Realität, sondern konstruieren aus kulturellen Artefakten und historischen Informationen eine eigene Wirklichkeit. Es ist ein ebenso individueller wie autobiografischer Mikrokosmos, in dem ausschließlich die Elemente und Traditionen zusammenfinden, die auf den physischen wie gedanklichen Reisen des Künstlers sein Interesse wecken.

VI. Thilo Westermann meets Stéphanie de Beauharnais: Die Beschäftigung Thilo Westermanns mit Stéphanie de Beauharnais ist hier und heute nicht abgeschlossen. Seine Ausstellung im Stadtmuseum Baden-Baden zeigt, ebenso wie die vorliegende Publikation, eine Momentaufnahme. Aktuell entstehen weitere Bildwerke, so zum Beispiel ein Hinterglasbild, welches ein Souvenirglas zeigt [S. 211]. Diese Gläser erfreuen sich als touristisches Andenken bis heute und nicht nur in Baden-Baden großer Beliebtheit. In den Medaillons eines solchen historischen Souvenirglases zeigt Thilo Westermann Ansichten des ehemaligen Pavillons der Großherzogin in Baden-Baden, des Mannheimer Schlosses sowie der aktuellen Villa Stéphanie.

Auch die innige „Brieffreundschaft“ ist keineswegs beendet und wird von Thilo Westermann in absehbarer Zeit auch nicht beendet werden. Es sei denn, die Großherzogin Stéphanie Louise Adrienne von Baden würde sich entschieden jeglicher Kontaktaufnahme verweigern. Darauf deutet zum aktuellen Zeitpunkt jedoch nichts hin.


1 Ocean Vuong, Auf Erden sind wir kurz grandios, München 2019, S. 38.

2 Die Zeichnung Bougainvillea wählt Thilo Westermann für die Fotomontage, da der Botaniker Philibert Commerson im Geburtsjahr der Großherzogin in Antoine Laurent de Jussieus Genera Plantarum die Gattung der Bougainvilleen aufstellte. Er benannte sie nach dem Seefahrer Louis Antoine de Bougainville, der 1768 die Insel Bougainville im Pazifischen Ozean (wieder)entdeckte und ihr daraufhin den eigenen Namen gab. Die eindrucksvolle Schönheit der Insel beschrieb de Bougainville in seinem 1771 publizierten Reisebericht Voyage autour du monde par la frégate du roi La Boudeuse et la flûte L’Étoile.

Publiziert in Markus A. Castor und Heike Kronenwett (Hg.): Thilo Westermann. Souvenir de Baden-Baden, Köln 2022, S. 241–248.