Aoife Rosenmeyer  Der zeitgenössische Künstler (2015)

Ist Thilo Westermann ein zeitgenössischer Künstler? Klar, er arbeitet im Hier und Jetzt und ist in den aktuellen Kunstdiskurs involviert. Seine Arbeiten mögen zwar untypisch sein, doch widmet auch er sich wie viele andere Künstler des 21. Jahrhunderts der Frage, wie Bilder kommuniziert und in einer Welt verbreitet werden, in der Druck und Reproduktion eine wesentliche Rolle spielen. Auch sind Westermanns Bilder trotz der offenkundigen Gegenständlichkeit der Motive keine Abbilder im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr idealisierende Collagen, die aus vielen Bildern zusammengesetzt sind und wohl jeden digitalen Bildbearbeiter beeindrucken würden. Aber dennoch – so stellt auch Martin Thierer fest – verbleiben Westermanns Stillleben in einer Tradition, deren Höhepunkt vor einigen Jahrhunderten im Barock gefeiert wurde. Mag das Interesse an Stilllebenmalerei heutzutage zwar hin und wieder aufflackern, verweist der künstlerische Rückgriff auf das Genre doch immer auch auf dessen historische Blütezeit.

Westermanns Arbeiten sind also überhaupt nicht zeitgenössisch, wenn man den Begriff im Sinne von „in der gegenwärtigen Zeit“ gebrauchen will. Legt man aber Giorgio Agambens Definition zugrunde, sind sie jedoch plötzlich sogar auf beispielhafteste Weise zeitgenössisch. Agambens Essay Was ist Zeitgenossenschaft? wurde 2006 vorgetragen und erschien 2009 in englischer Übersetzung. Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Text mit dem treffenden Titel Unzeitgemäße Betrachtungen führt Agamben darin Nietzsches Würdigung des Zeitgenössischen fort: „Diejenigen, die restlos in einer Epoche aufgehen, die in jedem Punkt mit ihr übereinstimmen, sind nicht zeitgenössisch, weil sie gerade deshalb nicht sehen, nicht beobachten können.“1 Demnach ist Zeitgenossenschaft ein Zustand des Losgelöstseins von der Zeit, in der man lebt. Nur wer von seiner eigenen Zeit losgelöst ist, kann diese mit klarem Blick besehen. Diese Distanz oder Abkoppelung ist in gewisser Weise ein Anachronismus – sowie eine präzise Beschreibung von Thilo Westermanns Arbeiten. Dies gilt nicht nur für die klassischen und damit nicht datierbaren Bildsujets seiner gegenständlichen Hinterglasmalereien, sondern insbesondere auch im Hinblick auf die Kunstfertigkeit und den Aufwand, den der Künstler für die Bildproduktion auf sich nimmt. Der lange Entstehungsprozess seiner Bilder – Westermann braucht mehrere Wochen für eine nur 20 oder 30 Zentimeter große Arbeit – ist ganz und gar altmodisch und dem Tempo modernen Lebens völlig unangemessen. Würde sich Westermann von der rasenden Bilderflut unserer Tage mitreißen lassen, wäre er gänzlich blind für das Zeitgeschehen. Agambens Zeitgenossenschaft ist eben nicht der Versuch, die Gegenwart zu meiden, ihrem Druck oder ihren Unannehmlichkeiten zu entfliehen, sondern genau das Gegenteil: Durch die anachronistische Haltung kann der Künstler erst sehen und kritisch beurteilen, was er sieht.

Weiter stellt Agamben in seinem Aufsatz die Frage, wie eine solche zeitgenössische Perspektive erreicht werden kann und welche Rolle die Wahrnehmung dabei spielt. Wenn Zeitgenossenschaft bedeutet, sich nicht vom Licht der Gegenwart blenden zu lassen, sondern deren dunkle Seite zu erkennen, wie kann man dann eben diese Dunkelheit wahrnehmen? Aus neurophysiologischer Sicht ist Dunkelheit nicht die Abwesenheit von Reizen, sondern eine Aktivierung von Zellen in der Retina und somit eine andere Form des Sehens. Man könnte es auch eine aktivere Form des Sehens nennen, eine aktive Betrachtung der Dinge jenseits der Reizüberflutung mit Bildern (Geräuschen etc.), mit der wir heute leben müssen. Für Agamben sind die beiden Formen des Sehens untrennbar miteinander verbunden; der Helligkeit ist so immer auch eine gewisse „intime Finsternis“ zu eigen.2 Dunkelheit ist überdies ein wichtiger Aspekt in der Tradition des Stilllebens; Blumen, Früchte oder Essbares scheinen aus der Dunkelheit eines Interieurs aufzutauchen, um auf ihre vergängliche Existenz und auf ihr Schicksal zu verweisen, wie alle sterblichen Dinge wieder zu Staub zerfallen zu müssen.

Westermanns Hinterglasbilder stehen ganz in dieser Tradition, unterstreichen diese sogar noch durch die Art und Weise, wie die Blumenarrangements und Kristallvasen vor der absoluten Schwärze des Hintergrunds hervortreten. Obwohl die arrangierten Blumen und Gefäße physisch geerdet scheinen, wirken sie doch, als ob sie wie im Nichts hinter einer durchsichtigen Glasscheibe schweben würden. Oder bewegen sie sich in einer anderen, ihnen ganz eigenen Galaxie? Auch das klingt in Agambens Essay an, wenn er schreibt, dass sich der einzelne Stern nicht alleine am Nachthimmel befindet, sondern dieser von einem ganzen Universum umgeben wird, das wir nicht greifen können. Neu geborene Galaxien entfernen sich dabei zu schnell, als dass wir die von ihnen ausgehenden Lichtstrahlen noch sehen könnten. Nur der Zeitgenosse kann diese Strahlen in der unendlichen (oder um sich greifenden) Finsternis wahrnehmen.

Es gibt noch weitere Punkte in Agambens kurzem Text, die den Blick auf Westermanns Arbeiten erhellen können, wie beispielweise der Gedanke, dass der Zustand der Zeitgenossenschaft die Gegenwart als archaisch annimmt, weil er deren Ursprung fixiert. Es geht dabei nicht darum, ein ursprüngliches Geschehen zu bestimmen, indem man in der Zeit zurückgeht, sondern darum, in der Gegenwart einen für sie relevanten Ursprung zu finden, den wir zwar nicht mehr erleben können, der aber immer noch Teil von uns ist; so ähnlich etwa wie Kindheitserlebnisse im späteren Erwachsenen fortwirken. Durch die Zäsur mit der Gegenwart kann der zeitgenössische Künstler diese in ihrer Beziehung zur Vergangenheit sehen und so eine dynamischere Verbindung zwischen beiden schaffen.

Doch wenden wir uns wieder Westermanns Bildern zu. Er wählt einen Stift, setzt ein winziges, punktförmiges Zeichen auf die grundierte Oberfläche und wiederholt diese Geste. Er tut dies immer wieder in unendlich mühevoller Kleinarbeit. Diese Entstehungsweise seiner farbigen Buntstiftarbeiten ist geradezu absurd, da das Ergebnis nicht mehr ist als die Spuren des Arbeitsprozesses und der Abrieb einer Buntstiftfarbe auf einem Untergrund. Westermann arbeitet auf einem Stück Aluminium-Dibond, das er zuvor mehrmals weiß grundiert und abgeschliffen hat, damit dieses die Farbe des Stiftes aufnimmt. Die fertige Arbeit wird wie die Stilllebenmalereien hinter Glas mit Abstandhaltern schwebend vor der Wand präsentiert. Vom festen Hintergrund der Wand abgesetzt, muten die Bilder damit wie Projektionsflächen oder Bildschirme an. Den Arbeitsprozess des wiederholten Punktesetzens könnte auch ein Computer oder ein Drucker übernehmen. Indem Westermann jedoch selbst zum Stift greift, offenbart das Endprodukt die menschliche Unzulänglichkeit und Variabilität sowie geringfügige Unreinheiten im Farbauftrag. Die fertigen Arbeiten sind bonbonbunte Farbfelder – das betörend schöne Pink von Fuchsia, Fuchsia (2011) zieht den Blick auf sich und erstickt jegliche Hoffnung auf die gegenwärtigen Maximen von Produktivität, Zügigkeit, Professionalität und Vollkommenheit.

Westermanns Stillleben beruhen auf demselben Prinzip: Bei allen Arbeiten trägt er nach und nach winzige Punkte auf, bis das ganze Bild vollendet ist, wobei im Falle der einen Serie ein gegenständliches und bei der anderen ein ungegenständliches Ergebnis herauskommt. Diese Methode des kumulativen Punktesetzens geht ursprünglich auf Westermanns intensive Beschäftigung mit Drucktechniken und auf sein Bemühen zurück, die Motive seiner Stilllebenbilder möglichst gegenständlich und plastisch darzustellen. Es bleibt unbestritten, dass seine Rosen, Lilien und Päonien im Miniaturformat zum Greifen nah erscheinen, doch zerstört der Künstler selbst diese Illusion, indem er seine Bilder vergrößert und die gemalten Gegenstände somit wieder in ihre einzelnen Punkte zerfallen lässt.

Beide Serien – die Hinterglasbilder wie die Buntstiftzeichnungen – entstammen ihrer Zeit; Westermanns Arbeiten entspringen einer Kultur, in der Bilder flüchtig, aber auch von überragender Bedeutung sind. Das mediale Rauschen, das ständig auf uns einströmt, erfordert eine unablässige Flut glänzender und schöner Bilder, selbst wenn diese ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie auftauchen. In diesen Bildern manifestiert sich die Ökonomie des Begehrens; sie müssen ständig erneuert und optimiert werden. Thilo Westermann beherrscht diese Sprache der Attraktionen, widersetzt sich aber dem Imperativ, flüchtige Bilder zu schaffen. In diesem Sinne ist er ein wahrer Zeitgenosse. Jedoch arbeitet er zugleich mit einer gewissen Distanz zu seiner Zeit. Zelebrierten die großen Stillleben des Barock die Perfektion und die Vergänglichkeit alles Weltlichen, versucht Westermann in seiner Rückbesinnung auf dieses Zeitalter etwas Beständiges zu schaffen, während alles um ihn herum flüchtig ist. Oder wie Agamben es formuliert: „Es ist, als ob jenes unsichtbare Licht, die Dunkelheit der Gegenwart, seinen Schatten auf die Vergangenheit werfen würde und diese, vom Schattenstrahl getroffen, die Fähigkeit erhielte, den Dunkelheiten der Gegenwart zu antworten.“3


1 Giorgio Agamben: Was ist Zeitgenossenschaft? In: Nacktheiten. Übers. v. Andreas Hiepko. Frankfurt am Main 2010, S. 40.

2 Ebd., S. 45.

3 Ebd., S. 53.

Übersetzung: Jeremy Gaines
Publiziert in Thilo Westermann Vanitas, Wien 2015, S. 136–142.